Leseprobe

Mukadis

Seelenverbundene

Reihe: Peris Night von Eva Maria Klima


Aus der Perspektive des Unbekannten

1 Melanies Unbekannter

Seit Monaten saß ich bei jeder Gelegenheit neben ihrem Bett und beobachtete sie. Mein Blick haftete auf ihren blassen Lippen. Müde legte ich mein Gesicht in meine Hände. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte mich nicht einmischen. Doch was tat ich? Ich saß hier, betrachtete ihr engelsgleiches Gesicht und wünschte mir nichts sehnlicher, als für sie da zu sein. Ich hatte mir geschworen, mich nicht in ihr Leben einzumischen. Ein Schwur, den ich schon so oft gebrochen hatte, dass ich nicht mehr mitzählte. Solange ich in ihrer Nähe war, würde ich es tun. Jedes Mal würde ich mir ins Gedächtnis rufen, dass ich es nicht tun sollte und anschließend alle Vorsätze vergessen. Schon oft hatte ich mich auf den Weg gemacht und sie mit einem unguten Gefühl, das mich zu zerreißen drohte, zurückgelassen. An jenem Tag, an dem Kadeijosch sie um ihre Hand bitten wollte, wanderte ich die verschneiten Gebirgspfade Tibets entlang. Wie ein ständig präsenter Schmerz zog sich die Sorge um sie durch meinen Körper, bis sie mich schließlich überwältigte und zurückkehren ließ. Ich redete mir ein, mich nur überzeugen zu wollen, dass sie alles gut überstanden hatte und wieder unverheiratet bei Michael war. Obwohl mir auch der Gedanke an sie und Michael den Brustkorb aufzureißen schien. Er durfte ihr Beschützer, Seelsorger und Liebhaber sein. Ihm war erlaubt, was ich mir sehnlichst wünschte. Wie oft träumte ich von ihr, stellte mir vor, sie tagelang im Arm zu halten? Ihr das Gefühl von Geborgenheit zurückzugeben und sie vor allen Gefahren zu bewahren. Ihren einmaligen Geruch einzuatmen, die Wärme ihres Animas mit meinem zu verbinden. Erst ein einziges Mal hatte ich mich bisher mit ihrem Anima verbunden, an jenem Tag als ich sie in Kadeijoschs Hütte geheilt hatte. Niemals würde ich es vergessen. Es war einzigartig. Nie zuvor hatte ich so viel Vertrautheit und Innigkeit gespürt, nie eine Frau so sehr begehrt. Wie so oft, wenn ich an sie dachte, übermannte mich meine Fantasie: Sie liegt unter mir. Ihre Haut glänzt vom Schweiß. Ich spüre, wie sie sich nach meinen Berührungen verzehrt, so wie einst nach meinem Kuss, und da unsere Anime ineinander übergehen, weiß sie, dass sie alles für mich ist. Erschrocken schüttelte ich den Kopf. Nein, nein, nein! Es stand mir nicht zu! Sofort verdrängte ich dieses Bild aus meinem Bewusstsein. Wohl wissend, dass es in meinem Unterbewusstsein verankert bleiben würde. Verzweifelt rieb ich mir die Stirn, als sich die Schatten der Vergangenheit einen Weg in meine Gedanken erkämpften und mir vor Augen führten, warum ich sie nicht verdiente. Wie konnte ich nur jemals sie und ihre Mutter für das Geschehene verantwortlich machen und sie dafür hassen? Selbst damals hatte ich mich für meine Emotionen geschämt. Ich hatte gewusst, dass sie nicht ehrenvoll oder gerechtfertigt waren, doch es war, was ich empfunden hatte, und ich vermochte es nicht zu ändern. Denn sie hatten ihn mir weggenommen, ihn, meinen besten Freund, mit dem ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte. Gemeinsam durchstreiften wir die Wälder, erlernten die Kunst der Magie und des Kampfes, ersehnten die Zeit, in der wir endlich unseren Teil zum Krieg beitragen dürften, herbei, und bezahlten auf dem Schlachtfeld das Lehrgeld für unsere kindliche Naivität. Wehrlos mussten wir miterleben, wie so viele starben, bis wir schließlich dieser zerstrittenen Welt den Rücken kehrten und in den buddhistischen Klöstern Tibets nach Antworten suchten. All das taten wir zusammen, und dann kam sie: Eine junge Drachin, gerade erst der Kindheit entflohen. Ihre Lebensspanne würde gegen die unsere eine kurze Drehung um die eigene Achse sein. Unbekümmert beobachtete ich, wie mein Freund mit ihr über die unbeantworteten Fragen des Lebens und seine bisherigen Erfahrungen während der Meditation sprach. Wie er ihr das Kloster zeigte und ihr lächelnd die Haare aus dem Gesicht strich. In keiner Sekunde hatte ich es begriffen. Ich ahnte nicht, dass er sich in sie verliebte. Wie konnte ich nur so blind sein? Es war so offensichtlich. Mein Freund, der in seinem ganzen Leben noch nie seine Meinung einer Frau wegen geändert hatte, gab mich und unsere Suche für das Lächeln einer Drachin auf, besser gesagt, für das Lächeln einer Achteldrachin. Sie war mehr Mensch als alles andere. Er versuchte mich miteinzubeziehen, doch ich war unsagbar wütend auf ihn und wollte es nicht. Plötzlich hatte ich niemanden mehr, mit dem ich mein Anima verbinden konnte. Mit dem ich kommunizieren konnte. Ich meine richtig kommunizieren, nicht sprechen. Wenn einer von uns mit einem Peri, einer Elfe oder gar einem Menschen spricht, ist es, als würde er sich mit einem ihm willenlos ausgelieferten Hund unterhalten. Es kommt nicht viel zurück: ein paar Blicke, ein paar Emotionen, ein paar Gesten. Es ist besser als nichts, aber es ersetzt den Umgang mit unserer eigenen Art nicht. Zum ersten Mal verstand ich meinen Bruder, der uns bei jeder Gelegenheit seine unerträgliche Einsamkeit suggeriert hatte. Während mein Freund und ich das weltliche Dasein aufgegeben hatten, um zu meditieren, war mein Bruder dort verdrossen. Erst nachdem mir dieses kleine Miststück meinen Kameraden gestohlen hatte, begriff ich, was er meinte. Verbittert durch den vermeintlichen Verrat meines Freundes und meine unerträgliche Einsamkeit, weigerte ich mich ihn auch nur anzusehen. Als er mich bat, für ihn den Trauzeugen auf seiner lächerlichen menschlichen Hochzeit zu machen, lachte ich ihn aus. Später wollte er meine Hilfe, um seine Tochter zu schützen. Ich wies ihn zurück, redete mir ein, er hätte alles verraten, was wir in den letzten Jahrhunderten aufgebaut hatten. Glaubte, dass er seine Suche nach Erleuchtung und Weisheit um nichts in der Welt hätte aufgeben dürfen, und verzweifelte bei dem Gedanken, dass er vom Weg abgekommen sei. So kam es, dass ich der Person, die mich in Wahrheit mein ganzes Leben nie im Stich gelassen hatte, als sie mich am meisten brauchte, den Rücken zukehrte und sich selbst überließ. Sollte er doch sehen, was er davon hatte! Ein Teil von mir, den ich zu verleugnen versuchte, denn er gefiel mir schon damals nicht, hatte geglaubt, es würde ihn mir zurückbringen.  Wären die Frau und das Kind erst tot, käme er zu mir zurück. Bereits zu jener Zeit schämte ich mich so für diesen Gedanken, dass ich mir einredete, ihn nie gehabt zu haben. Aus Egoismus verwehrte ich ihm meine Hilfe und nicht nur die Frau und das Kind starben, mein bester Freund fand seinen Tod mit ihnen und hatte mich nun wirklich verlassen. Keine Sekunde hatte ich an die für mich absurde Möglichkeit gedacht, dass auch er sterben könnte. Noch heute fließen mir bei der Erinnerung an seinen Tod Tränen über die Wangen. Mein Freund, ich vermisse dich so sehr!
Mehr als zwanzig Jahre später, bei der Tower Bridge in London, entdeckte ich sie. Sofort erkannte ich, dass sie seine Tochter war. Er hatte es also geschafft, sie zu retten. Vermutlich war er ihretwegen gestorben. Sein Tod war ihre Schuld! So viel Hass ich ihr gegenüber auch empfand, ich musste ihr folgen. Ich war neugierig, wie das Leben der Tochter meines besten Freundes verlief. Oh! Ihr Leben war kompliziert! Sie erahnte nicht einen Bruchteil ihrer eigenen Geschichte. Sie wusste weder, wer sie war, noch wozu sie in der Lage wäre. Gefangen in einer filgurischen Sybielle, kannte sie nicht einmal ihren wahren Namen. Ihr gegenwärtiger Name lautete Melanie Merino. Jeder hätte gehört, dass es ein erfundener Name war, der aus den Buchstaben ihres richtigen bestand. Sie war völlig ahnungslos. Doch da mein Freund beschlossen hatte, dass man sie im Ungewissen lassen sollte, würde ich seine Entscheidung nicht infrage stellen. Nicht schon wieder! Obwohl ich ihr die Schuld an seinem Tod gab, entschied ich, sie zu beobachten. Ich würde mich in ihr Leben nie einmischen. Ich war mir sicher, ihr Vater hätte das so gewollt. Ich ließ es einfach geschehen. Es fiel mir leicht, solange sie nicht in Gefahr war. Diese Perifrau Xenia versuchte sie durch Energieentzug in den Selbstmord zu treiben. Melanie kämpfte, sie gab alles, um am Leben zu bleiben. Sogar mehr tot als lebendig gab sie nicht auf. Ich konnte nicht anders. Ich musste sie retten. Es war ein Ausrutscher. Von nun an würde ich sie sich selbst überlassen. Ich würde sie nur beobachten. Ich bemühte mich sie zu hassen, aber ihr gesamtes Wesen erinnerte mich an ihren Vater. Für ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen war sie viel zu weise. Wie sollte ich jemanden verachten, dessen ganzes Sein meinem besten Freund glich. Nikelaus probierte sie unter meinen Augen zu entführen. Was hätte ich tun sollen? Als Vlad sie vergewaltigen wollte, wurde ich zum nächsten Mal schwach. Ich gab Hugorio sofort einen anonymen Tipp, damit er rechtzeitig erschien, um sie vor ihm zu retten, und ich nicht ein weiteres Mal gezwungen war, meinen Vorsatz zu brechen. Vor Angst um sie zitternd schritt ich vor Vlads Haus auf und ab und wartete verzweifelt auf die Ankunft des Filguri. Wie schwer es mir fiel! Ich konnte es kaum ertragen und wäre im nächsten Moment selbst ins Haus gestürmt, wäre nicht Hugorio endlich eingetroffen. Trotz all meiner Vorsätze rettete ich sie kurz später erneut und erneut. Jedes Mal hatte ich mir geschworen wegzugehen und sie ab jetzt sich selbst zu überlassen, und jedes Mal zwang mich meine zügellose Sorge um sie, zurückzukehren. Ich ertrug es nicht! Ich brauchte ihre Nähe. Sie zu beobachten, war meine persönliche Sucht. Jede Sekunde, in der ich nicht in ihrer Nähe war, um sie zu beschützen, durchlebte ich Todesängste. In meinem Leben habe ich viele Verletzungen und Verluste erlitten, doch nichts war vergleichbar mit dem Schmerz, den ich empfand, wenn ich nicht wusste, ob es ihr gut ging.
Schon wieder saß ich an ihrem Bett und hatte nur den einen Wunsch: ihr zu helfen.
Drei Tage war ich durch die Berge Tibets gewandert, als mich die Furcht um sie zurückkehren ließ. Als ich sie nicht bei Michael fand, entführte ich einen seiner Männer und nötigte ihn mir alles zu berichten, bevor ich ihm die Erinnerungen an mich nahm. Er erzählte mir, wie Ziwik sie beinahe zu Tode gefoltert hatte. Nicht einmal ich hätte sie davor bewahren können. Die Barriere, die sie und Ziwik von den anderen abgeschirmt hatte, konnte nur ein Drache durchbrechen. Sie zu retten, kostete Kadeijosch das Leben.
Ich sah auf und betrachtete ihr Gesicht. Es war zwecklos, ich würde es nicht schaffen, einfach nur tatenlos dazusitzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Ich würde egoistisch sein. Ab nun würde ich sie bewachen. Ich würde ihre Wünsche respektieren, würde nicht bei jeder Kleinigkeit eingreifen, aber ich würde sie retten, wenn ihr Leben in Gefahr wäre. Ich entfernte den Schlauch, über den sie ernährt wurde. Glücklich, dass ich es endlich durfte, legte ich mich auf sie, um möglichst viele Berührungspunkte mit ihr zu bilden, und versuchte sanft mit meiner Energie in ihren Körper zu gelangen. Wie beim letzten Mal erlaubte sie es mir, nach einigem Bitten. Die Leere, die ich vorfand, ängstigte mich. War es zu spät? Hatte ich mir zu viel Zeit gelassen? War sie bereits gegangen?
Dann fand ich sie, gut versteckt hinter ihren Ängsten, eingesperrt in ihrem eigenen Körper. Ich erinnerte mich an meine letzte intensive und intime Kommunikation mit ihr. Nein, ich durfte keine Intimität mit ihr empfinden, es stand mir nicht zu. Es war meine Schuld. Nicht alles, aber manches davon. Ich hatte mich aus Eifersucht geweigert, meinem besten Freund zu helfen. Nun bezahlte diese unschuldige junge Frau den Preis dafür. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, hätte ich damals meinem Freund geholfen. Hätte ich getan, worum er mich gebeten hatte, wäre sie nun meine Mukadis. Wie oft hatte ich mich selbst hintergangen und mir vorgestellt, wie es wäre, sie zu berühren, sie zu lieben? Ihr Leben mit ihr zu verbringen. Ihr befreites Lachen zu sehen, wenn sie sich endlich wieder sicher fühlte. Nein, ich verdiente sie nicht. Aber Michael auch nicht. Durch meine Schuld waren sie und dieser Nichtsnutz nun vereint. Ohne mich wäre sie viel zu klug gewesen, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Nein, ich hatte kein Recht, sie zu begehren!

Melanies Perspektive

2 Das Erwachen

Schmerz: Körperlicher Schmerz, seelischer Schmerz. Alles, was ich wahrnahm, waren die Schatten von Schmerz und Angst. Dann spürte ich sie, eine vertraute Güte und Freundlichkeit. Sie hüllte mich ein und führte mich durch den Sumpf aus Emotionen, in dem ich gefangen war. Er war es, der Mann, der mich schon in Kadeijoschs Haus geheilt hatte. Mit ihm war alles einfach. War er bei mir, fühlte ich mich geborgen. Ich glaubte zu schweben. Vergaß den Schmerz, der mich gefangen hielt. Ich wollte meine Augen öffnen und ihn sehen. Liebevoll bat er mich mit seiner Energie, es zu unterlassen, damit er noch bei mir bleiben könne.
Nein, das würde ich nicht! Ich musste ihn endlich sehen. Endlich wissen, wer er war. In dem Moment, in dem ich begann, meine Lider zu öffnen, brach unser Kontakt ab. Er war verschwunden. Abermals hatte ich ihn nicht gesehen. Hoffnungsvoll ließ ich meine Beine den Bettrand entlang nach unten gleiten, um aufzustehen. Sowie ich den Boden berührte und mein Gewicht auf sie verlagerte, stürzte ich auf den kalten blauen Fußboden vor mir. Ich versuchte mich mit den Händen abzustützen, aber ich schaffte es nur mit Müh und Not, meinen Oberkörper zu heben, um mich auf meine Knie und anschließend in eine sitzende Position zu kämpfen. Warum war ich derart schwach? Wo war ich? Auf jeden Fall nicht mehr in Kadeijoschs kleinem Häuschen, das er meinetwegen gekauft hatte. War ich schon wieder entführt worden? Ich würde nicht hier bleiben, um es herauszufinden. Durch die geöffnete Zimmertür sah ich Licht fluten. Mühsam robbte ich in dessen Richtung und gelangte in einen langen, hellen Korridor. Vor mir konnte ich durch die offenstehende Haustür auf einen sattgrünen Rasen blicken. Sonnenstrahlen glitzerten in das Innere des Gebäudes. Mit schwerfälligen Bewegungen kämpfte ich mich über den kalten Marmorboden. Erschöpft ermutigte ich mich immer wieder: ›Nur noch ein paar Meter, Melanie! Nur noch ein paar Meter, dann siehst du, wo du bist‹, bis ich erleichtert in das feuchte Grün vor dem Ausgang fasste und mich nach draußen zog. Vor Anstrengung heftig atmend, ließ ich mich zu Boden sinken. Ich spürte eine Berührung in meinem Nacken. Sie war warm und feucht. Kleine Härchen kitzelten meine Haut. Das schwere Atmen eines Tiers drang an meine Ohren. Ängstlich hielt ich den Atem an. Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen wollte, was hinter mir war. Mit letzter Kraft drehte ich mich auf den Rücken. Was ich sah, waren Reißzähne und eine Zunge, von deren Spitze Speichel auf meinen Brustkorb tropfte. Unter Schock stehend schrie ich aus Leibeskräften, woraufhin der Tiger über mir zu brüllen begann. Ich glaubte, vor Angst zu sterben. Eine Hand traf seine Brust und schleuderte ihn einige Meter durch die Luft. Hugorio blickte besorgt auf mich herab. »Hat er dich verletzt?«
Ich starrte ihn nur an. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wieso ich war, wo ich war, und ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. War ich verwundet? Nein, oder doch? »Ich kann mich kaum rühren. Ich habe nicht die Kraft dazu. Was ist mit mir los?«, jammerte ich.
Hugorio streichelte mir beruhigend die Wange. »Das wird schon.« Er hob mich hoch und legte mich auf eine Liege, die vorm Haus stand. »Melanie, bleib in der Sonne und erhole dich.« Er wollte von mir weggehen. Panisch streckte ich meine Hand nach ihm aus. »Lass mich bitte nicht wehrlos mitten in deinem Zoo voller Raubtiere zurück!«
Mit mir zugekehrtem Rücken antwortete er grinsend: »Das würde ich doch nie tun.«
Müde von den Strapazen, die es mich gekostet hatte, mich hierher zu bewegen, schlief ich sofort ein. Als ich wieder wach wurde, dämmerte es bereits. Hugorio saß auf einem Stuhl neben meinem Bett. Seine blonden Haare standen frech in alle Richtungen. Er trug eine verwaschene Jeans und ein enges T-Shirt, dessen Ärmel durch seine Muskeln geformt wurden. Sein Kleidungsstil und sein Erscheinungsbild waren durch ein Wort beschreibbar: lässig. Er hielt ein dickes, schwarzes Buch mit goldener Schrift in der Hand.
»Hugorio, was ist geschehen?«
Überlegend rieb er über seine Bartstoppel. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?«
»Ich bin mit Ryoko zu dem Ritual geflogen.«
Ich fasste mir mit der Handfläche an die Stirn. Was war danach passiert? Wie bin ich hierhergekommen? Wo war Kadeijosch? Ich blickte an Hugorio vorbei in Richtung Tür. »Ist die Zeremonie vorüber?«
»Ja. Hast du keine Erinnerung daran?«
»Nein! Sag bitte nicht, dass ich jetzt mit einem Drachen verheiratet bin!«
Er lächelte belustigt. »Ich glaube, nichts und niemand auf dieser Welt, könnte dich dazu zwingen.«
»Ist etwas vorgefallen, von dem ich wissen sollte? Warum bin ich hier, und wo ist Michael?«
»Du bist hier, weil du meine Hilfe brauchtest. Michael setzt sich in den Flieger zu uns, sobald er erfährt, dass du wach bist.«
»Weshalb weiß er es dann noch nicht?«
»Du bist im Koma gelegen. Ich habe versucht dich zu heilen, aber du sperrtest mich aus.«
»Wie lange?«
»Sprichst du vom Koma? Lange genug, um deine Muskulatur zu schwächen. Melanie, Michael ist wochenlang neben deinem Bett dahinvegetiert. Willst du, dass er dich in diesem Zustand sieht? Morgen kommt ein Spezialist und hilft dir beim Wiederaufbau deiner Muskeln. Findest du es nicht besser, ihm erst Bescheid zu geben, wenn du dich selbstständig auf den Beinen halten kannst?«
»Nein!« Meine Antwort klang wie ein verzweifelter Hilfeschrei.
»Melanie, sei vernünftig. Du sagst, du liebst ihn. Willst du, dass er sich noch mehr quält?«
»Seit wann sorgst du dich um Michaels Wohlergehen?«
»Ich habe unsere Differenzen beiseitegelegt.«
Trotzig mit verschränkten Armen im Bett liegend antwortete ich: »Nein! Ich möchte, dass er kommt!« Mag sein, dass es egoistisch war, aber ich wünschte mir, Michael zu sehen.
»Macht es wirklich einen Unterschied, ob er heute oder in ein paar Wochen zu uns stößt?«
Ja, das tat es. Ich brauchte Michael hier. Ich wollte mich in seine starken Arme legen, seine Wärme spüren und mich behütet fühlen. »Ich will Michael bei mir haben!«, flehte ich mit Tränen in den Augen.
Er griff tröstend nach meiner Hand. Ich ließ meine Energie in ihn fließen und bettelte  ihn an, Michael anzurufen. Hugorio und ich hatten inzwischen unsere eigene Art der Kommunikation. Wir konnten uns über unsere Energie unterhalten. Es war nicht wie ein Gespräch mit Worten. Es war, als würden wir mit der Essenz unseres Wesens kommunizieren. Hugorio wirkte beschwichtigend auf mich ein, also umschmeichelte ich ihn aufmunternd bittend mit meiner Energie und hoffte ihn zu erweichen. Belustigt ließ er mich lange gewähren. »Melanie, so süß ich dein Betteln auch finde, ich werde Michael erst anrufen, wenn du selbstständig gehen kannst.«
Missmutig verbannte ich ihn aus meinem Körper. Er begann laut zu lachen und stand auf. Im Vorübergehen klopfte er William, der vor Kurzem zu uns gestoßen war, auf die Schulter. »Ich bin, du weißt schon, wo. Pass auf sie auf, bis ich fertig bin.«
»Geh nur, ein Mann hat seine Bedürfnisse. Ich werde sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«
William Debruce wurde von den meisten übernatürlichen Wesen hinter seinem Rücken als Hugorios Vampir bezeichnet, weil er dem Filguri bedingungslos loyal war. Er setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett und lehnte sich mit überschränkten Beinen nach hinten. »Melanie, Melanie, du bist ein zähes kleines Mädchen.«
»Ich bin kein Kind mehr und ich bin auch nicht klein.«
»Stimmt, aber du weckst sofort jedermanns Beschützerinstinkt.«
»Du meinst, abgesehen von den wenigen Hunderten, die mich töten wollen.«
Williams Lippen formten ein Lächeln, dennoch schienen seine grünen Augen besorgt. »Ja, genau, bis auf die paar Hundert oder Tausend.«
»Was ist mit mir passiert?«
»Wieso fragst du?«
»Ich falle doch nicht grundlos in ein monatelanges Koma.«
»Ziwik wollte dich zwingen, seine Frau zu werden. Du hast dich geweigert, da hat er wieder und wieder versucht dich zu verwandeln, bis du beinahe gestorben wärst.«
Ein eiskalter Schauer rann mir über den Rücken. Ich hatte keine Erinnerung an das Erzählte. Die Frage war, wollte ich mich erinnern? Wohl eher nicht. William saß wie eine Statue neben mir. Nach wie vor realisierte ich nicht, was geschehen war, fühlte mich, als wäre jemand, der mir viel bedeutet hatte, dahingeschieden, und war vor Trauer verzweifelt. Etwas fehlte. Ein jäher Aufschrei entfloh meiner Kehle: »Elke!« War meine Schwester in Ordnung?
William sprang erschrocken auf. »Was ist los?«
»Geht es Elke gut?«
»Wem?«
»Meiner Schwester!«
»Natürlich, warum sollte es anders sein?«
»Ich fühle eine Leere, wie ich sie zum letzten Mal gespürt habe, als ich glaubte, sie wäre tot.«
William nahm sein Handy zur Hand. Sekunden später stand Hugorio in der obligatorisch zerschlissenen Jeans und nacktem Oberkörper. »Was ist los?«
»Melanie sagt, sie fühle sich nicht wohl«, informierte ihn William.
Hugorio wollte keine Worte von mir, er streckte mir seine Hand entgegen. Stur verschränkte ich meine Arme. Es waren meine Emotionen. Sie gehörten mir. Kopfschüttelnd schnappte er sich meine Hand. Nachdem er kurz in mich hineingehorcht hatte, suggerierte er mir: ›Es ist viel geschehen, du wurdest beinahe zu Tode gefoltert. Du bist einfach überfordert.‹
Ich fühlte mich nicht überfordert! Ich war traurig und verstand nicht weshalb. Hugorio hatte sich geweigert, Michael anzurufen. Was, wenn Ziwik ihm wegen meiner Entführung etwas angetan hatte. Hugorio ließ mich los. »Deinem Lover geht es gut. Es ist alles in Ordnung.« Dann verschwand er so lautlos, wie er gekommen war.
Hatte mir seine Energie eben ›zu Tode gefoltert‹ vermittelt? Was mit mir passiert war, hatte sich bei William harmloser angehört. Ich zog mir die Decke bis unters Kinn, dabei fielen mir mehrere Narben auf meinem Handrücken auf. Es waren weiße Linien, die die Zeichnungen meiner filgurischen Sybielle darstellten. Entsetzt bemerkte ich, dass diese verblichenen Wundmale ebenfalls auf meinen Handflächen vorhanden waren. Sollten diese Vernarbungen meinen gesamten filgurischen Käfig abbilden, wäre ich entstellt. Fassungslos warf ich die Decke von mir und zog mein Pyjamahemd nach oben. Auch hier waren sie zu sehen. Hektisch berührte ich mein Gesicht, während meine Augen tränenfeucht wurden. Ich ertastete ein erhöhtes V auf meiner Stirn. Genügte es nicht, dass mich die halbe Welt tot sehen wollte? Musste ich auch noch Narben tragen, die jedem verrieten, wer ich war. Ich war vermutlich das einzige lebende Wesen, das in eine filgurische Sybielle gepresst war. Die Vorstellung, mein nettes Äußeres verloren zu haben, entsetzte mich noch mehr als die Erkenntnis, dass jeder Lustrare, der mich sah, wüsste, wer ich bin. Ich bat William, mir einen Spiegel zu bringen.
Wie hypnotisiert beobachtete ich meinen Zeigefinger, der die weißen, vernarbten Linien nachzeichnete. War dies von nun an mein Aussehen? Das Schlimmste war, dass ich nicht mehr wie ein gewöhnlicher Mensch aussah. Sondern wie eine Außerirdische, die sich als blonde, blauäugige Frau tarnte.
William drückte mir bestärkend die Schulter. »So schlimm ist es nicht. Du bist trotzdem hübsch.«
Ungläubig hob ich die Augenbrauen. Dachte er wirklich, er könnte mich damit aufmuntern?
Stunden später trat ein Mann mit ärmellosem T-Shirt, Jogginghose und Sporttasche neben mein Bett. Er schloss mich an ein Gerät, das meine Muskeln mittels Elektroimpulsen stimulierte. Während ich eine halbe Stunde die Stromimpulse über mich ergehen ließ, trug er mir spezielle Übungen auf. Ich bemühte mich, seinen Erwartungen gerecht zu werden. Von diesem Tag an beschäftigte er sich täglich bis zu acht Stunden mit mir.
Hugorio kam mehrmals am Tag, um sich mit mir mittels Energiefluss zu unterhalten. In einem Moment der Unachtsamkeit teilte er mir mit, dass er sich auf unseren täglichen Austausch freue. Am meisten genoss er mein Flehen, Michael anzurufen. Meinen Wunsch wollte er mir jedoch keinesfalls erfüllen.
Ich war ans Bett gefesselt, nicht fähig alleine auf die Toilette zu gehen. Bei den einfachsten Verrichtungen benötigte ich die Hilfe einer Pflegerin. So sehr ich mir wünschte, meinen Geliebten bei mir zu haben, musste ich doch einsehen, dass es womöglich besser war, wenn mich Michael in diesem Zustand nicht sähe.
Eines Morgens vergaß ich, dass ich immer noch mit Hugorio verbunden war, und verriet ihm, wie verzweifelt ich war. Wie sehr ich es hasste, Tag für Tag die weiße Decke in meinem Raum anzustarren, unfähig das Zimmer selbstständig zu verlassen. Ich fühlte mich gefangen, hoffnungslos hilflos. Inzwischen war ich froh, dass mich Michael nicht sah. Hugorio versuchte mich aufzubauen, doch ich warf ihn aus meinem Körper und wandte mich von ihm ab. Den restlichen Tag sperrte ich ihn durch mein mentales Schutzschild aus.
Wie in jeder Nacht, seitdem ich aus dem Koma erwacht war, konnte ich kaum schlafen. Hugorio, der mindestens einmal in der Nacht einen kurzen Abstecher in mein Zimmer machte, um sich von meinem Wohlergehen zu überzeugen, erschien neben mir. »Kannst du schon wieder nicht einschlafen?«
Er wartete nicht auf meine Antwort, zog mir die Decke weg, nahm mich auf den Arm und im nächsten Moment standen wir vor der Waldhütte, in welcher Michael und ich mit ihm zwei Tage verbracht hatten, bevor ich mit Vlad nach Rumänien musste.
Er legte mich auf eine Bank auf der Veranda. Froh, endlich die Trostlosigkeit meiner vier Wände zu verlassen, dachte ich gar nicht daran zu protestieren. In mich gekehrt betrachtete ich den wolkenlosen Nachthimmel, und zum ersten Mal, seit ich aufgewacht war, fühlte ich mich einigermaßen wohl. Vorsichtig versuchte Hugorio seine Energie in meinen Körper fließen zu lassen. Als er erkannte, dass ich ihn nach wie vor aussperrte, atmete er frustriert aus. »Vielleicht gelingt es dir, hier zu schlafen.« Magisch bewegte er einen Stuhl neben mich und nahm darauf Platz. Er überkreuzte lässig seine Füße und zwinkerte mir zu. »Ich bleibe hier und passe auf dich auf.«
Warmer Wind strich mir übers Gesicht, meine Augen wurden schwer, und ich glitt langsam in einen tiefen Schlaf.

3 Flosnuris

Eine raue Zunge schleckte über meine Wange und riss mich aus einem Traum voller Schmerz und Leid. Zwischen Hugorios Stuhl und meiner Liege stand Xipsy. Xipsy war mein Hund, den ich als kleines Kind gehabt hatte. Meine Eltern hatten stets behauptet, er wäre nicht größer als ein Boarder Collie gewesen. Tatsächlich aber entsprach seine Schulterhöhe der meinen. Er glich einem übergroßen Cockerspaniel mit Löwenpranken, einem furchterregenden Gebiss und silbernen Flügeln. Von denen ich seit meinem letzten Zusammentreffen mit Xipsy annahm, dass sie sich mit dem Verschwinden des Mondes auflösten. Nachdem mich meine Eltern in meinen goldenen Käfig gesperrt hatten, entfernten sie alles Übernatürliche und somit auch Xipsy aus meinem Leben, damit ich mich nicht gegen meine filgurische Sybielle wehrte. Von da an zogen sie mich in dem Glauben auf, ein einfacher Mensch zu sein. Meine Herkunft war nach wie vor von Geheimnissen umwoben. Nach neuesten Erkenntnissen war ich vermutlich ein halber Naturgeist und ein Sechzehnteldrache. Naturgeister waren die Vorfahren der Peris und Elfen und wie die Drachen und Filguri Wesen der alten Magie.
Ein weißes Tier, das von derselben Art wie Xipsy war, hatte seinen Kopf auf Hugorios Schoß gelegt. Ein weiteres graues stand am unteren Ende der Bank und musterte mich. Jeder Mensch hätte bei dem Anblick dieser Monster sofort vor Angst geschrien. Ich nicht. Xipsy würde nie zulassen, dass mich jemand in Gefahr brächte. Ich kraulte sein samtweiches Fell. »Hallo, mein Junge, ich habe dich vermisst.«
Mit einem Bellen, das einer dem Mond gewidmeten Symphonie glich, forderte er mich auf, seinen Rücken zu besteigen und mit ihm zu fliegen. Wehmütig streichelte ich ihn. »Ich kann nicht selbstständig aufstehen, mein Kleiner.«
Hugorio grunzte bei dem Versuch, sich ein Lachen zu verkneifen. »Findest du, ›Kleiner‹ ist der richtige Spitzname für einen Flosnuri?«
»Du nennst ihn einen Flosnuri?«
»Ja, er ist ein Flosnuri, ein Mondtänzer.«
Der Filguri hob mich, ohne um Erlaubnis zu fragen, hoch und setze mich auf Xipsys Rücken. War er verrückt? Ich hatte nicht die Kraft mich festzuhalten. »Hugorio, heb mich sofort auf die Bank zurück!«
Bevor ich aussprechen konnte, raste Xipsy mit mir los. Ich krallte mich in seinem Fell fest. Meine Muskeln gaben nach und ich stürzte bäuchlings, mit einem dumpfen Knall, auf den vermoosten Rasen vor Hugorios Hütte. Der Flosnuri stoppte und stieß mich mit seinem riesigen Kopf an. Seine Augen leuchteten silbern. Plötzlich knurrte er zähnefletschend. Ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein fuhr. »Er hat soeben herausgefunden, was mit dir los ist. Offensichtlich gefällt es ihm nicht«, erklärte Hugorio, der uns seelenruhig beobachtete.
Der weiße Mondtänzer löste sich von ihm, und der andere, der zuvor bei meinen Beinen gestanden hatte, folgte ihm zu mir. Die drei Wesen stellten sich um mich herum auf. Ihr Fell glänzte silbern im Schein des Mondes. Gemeinsam hoben sie die Köpfe und beklagten den Mond. Ihr Heulen vereinte sich zu einem durchgehenden, wohlklingenden Gesang. Begleitet von dieser Melodie liefen sie im Kreis um mich herum. Sie beschleunigten, bis sich ihre Erscheinungen zu einem silbern funkelnden Streif verbanden. Ein ziehender Schmerz zog sich durch meine Muskeln und Gelenke und entwickelte sich zu einer reißenden Qual, die mich zu verzehren schien. Meine verzweifelten Schmerzensschreie hielten sie nicht davon ab, sich weiter um mich zu drehen. Runde um Runde um Runde. Dann endlich wurden sie langsamer und stoppten. Sowie sie ihr Tempo reduzierten, nahmen auch meine Schmerzen ab, bis sie schließlich völlig verschwanden. Erschöpft schloss ich meine Augen. Schluchzend glitt ich in einen traumlosen Schlaf, bis ich am nächsten Morgen in jenem Bett erwachte, in dem ich schon bei unserem letzten Besuch geschlafen hatte. Jeder Muskel meines Körpers schmerzte. Ich konnte nicht glauben, dass mich Xipsy tatsächlich diesen Qualen ausgesetzt hatte. Meine Enttäuschung darüber nagte an mir und wurde durch meinen hilflosen Zustand verstärkt. Schwermütig tat ich, wozu ich nun täglich gezwungen war: Ich lag im Bett und starrte die Wände an.
Hugorio schritt zufrieden singend in der Hütte hin und her. Ab und zu pfiff er eine Melodie. Wie sehr wünschte ich mir aufzustehen und die massive Holztür vor mir zu durchschreiten. Die Eintönigkeit meines derzeitigen Daseins war kaum zu ertragen. Wäre es Michael, der fröhlich pfeifend durch die Hütte wanderte, und nicht der Filguri, dann hätte ich längst nach ihm gerufen. Frustriert trommelte ich mit den Fingern gegen den Bettrahmen. Plötzlich verstummte Hugorio. Leise wurde die Tür aufgeschoben. Er streckte seinen Kopf herein. »Ich wusste doch, dass ich etwas gehört habe. Wie geht es meiner Kämpferin heute? Gut geschlafen?«
Zögernd nickte ich. »Bis mich die Flosnuris geweckt haben, hatte ich einen großartigen Schlaf. Wie du weißt, wurde es danach sehr irritierend.«
»Du hast doch keine Ahnung, was ein Flosnuri ist«, erwiderte Hugorio mit einem lausbubenhaften Grinsen.
Erlaubte er sich einen Scherz auf meine Kosten? »Hugorio, du warst doch dabei! Du hast sie ebenfalls gesehen. Du hast mir verraten, was sie sind.«
Ich forderte ihn auf, sich zu erinnern. Ich beschrieb ihm, wie sie ausgesehen hatten, doch er betrachtete mich nur verwirrt. »Meine Liebe, du hattest einen aufregenden Traum.«
»Aber ...«, setzte ich an, um ihm erneut zu widersprechen.
»Du hast geträumt. Wie schon beim letzten Mal, als du hier warst, war es nur ein Traum«, wies er mich zurecht.
»Nein! Ich habe nicht geträumt!«
»Doch, das hast du. Langsam sorge ich mich um dich. Vielleicht sollten wir dich zu einem Psychologen schicken?«
»Ich brauche keinen Psychologen.«
Großkotzig stellte er sich vor mich. »Ich bin es nicht, der Traum und Realität nicht unterscheiden kann.«
»Wenn ich geträumt habe, woher kommt dann mein Muskelkater. Du kannst mir nicht einreden, dass ich mir die Schmerzen nur einbilde.«
Neugierig lehnte er sich über mich. »Wie interessant, tu mir einen Gefallen, steh auf.« Was für ein Scherzkeks! Ich hatte es mithilfe meines Physiotherapeuten mit Müh und Not geschafft, fünf Schritte zu gehen, und das nur, weil ich mich an zwei Holzbalken festhalten durfte.
Hugorio klopfte wartend mit dem Fuß auf den Boden. »Melanie, nur weil ich unsterblich bin, heißt das nicht, dass ich Lust habe, stundenlang auf dich zu warten.«
Beleidigt starrte ich ins Leere. »Ist das jetzt ein sadistisches Spiel von dir? Du weißt so gut wie ich, dass ich mich noch nicht selbstständig auf den Beinen halten kann.«
»Vermutlich sind diese Wesen eine Projektion deiner Kräfte.« Er betrachtete mich, als müsste ich nun jeden Augenblick begreifen, worauf er hinauswollte. Als er erkannte, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, seufzte er schwer. »Steh einfach auf. Sofort!«
Wütend drehte ich mich zur Seite. Auf seine Spielchen hatte ich keine Lust. Ich konnte nicht aufstehen, und er wusste es genau. Während ich mich dem Zorn der Gerechten hingab, spürte ich plötzlich, wie mich zwei kräftige Hände packten und auf die Beine stellten. Hugorio stabilisierte mich in einer aufrechten Position. In dem Moment, in dem ich ihm fragend in die Augen blickte, ließ er mich los und machte einen übermenschlich schnellen Schritt rückwärts. Ich taumelte zwar kurz, doch noch stand ich. Meine Beine hatten nicht unter mir nachgegeben. Vorsichtig hob ich den linken Fuß an und setzte ihn ein Stück nach vorne. Langsam verlagerte ich mein Gewicht darauf. Meine Muskeln schmerzten, aber sie stützten mein Gewicht. Nun zog ich den rechten Fuß nach. Ich glaubte zu träumen. Schritt für Schritt ging ich auf die Eichentür zu. Ich konnte gehen! Zum ersten Mal in meinem Leben war mir bewusst, welch außerordentliches Geschenk das war. Verspielt hüpfte ich von einem Bein aufs andere. Lachend lief ich durch die Zimmertür ins Wohnzimmer und weiter nach draußen. Ich ignorierte das brennende Ziehen meiner Muskeln und rannte, als wäre der Teufel hinter mir her, in den verwilderten Wald, der die Hütte umgab. Laut jauchzend sprang ich in die Luft, fasste einen Ast über mir und zog mich hoch, löste meine Hände wieder von der rauen Rinde und ließ mich glücklich zu Boden fallen. Dort lag ich heftig atmend und genoss die vereinzelten Sonnenstrahlen, die einen Weg durch das dichte Geäst gefunden hatten, auf meiner Haut. Der Filguri war mir gefolgt. Er ließ sich mit dem Rücken auf den Waldboden gleiten. Bevor ich zu ihm blickte, bemerkte ich, wie sich seine Hand in die meine stahl. Fröhlich suggerierte er mir: ›Für mich konnte dein Traum nur eines bedeuten: Du hast dich auf irgendeine Weise selbst geheilt.‹
Nein, ich hatte mich nicht selbst geheilt. Xipsy und seine Freunde hatten es getan. Der Filguri bemühte sich, mich eines Besseren zu belehren. Allein die Tatsache, dass er mich aus einem Großteil seines Gefühlslebens aussperrte, bestärkte mich in meiner Überzeugung. Zum ersten Mal, seit ich aus dem Koma aufgewacht war, konnte ich etwas genießen. Ich konzentrierte mich auf den Geruch des von der Nacht feuchten Mooses. Zufrieden ließ ich meine freie Hand über den Waldboden streichen und grub meine Finger in die kühle Erde. In mich gekehrt schloss ich die Augen.
Ich spürte ein sanftes Kitzeln an meinen Fingerkuppen, das ein glitschiges Gefühl hinterließ. Mit einem angewiderten Aufschrei riss ich meine Hand zurück und öffnete meine Augen. Neben mir standen mehrere aus der Erde ragende Keimlinge, die in sichtbarer Geschwindigkeit wuchsen. An der Stelle, an der noch der Abdruck meiner Finger zu sehen war, entwickelte sich einer der Keimlinge zu einer wunderschönen blauen Knospe, die langsam erblühte. Ihre blauen Blätter fächerten sich auf und offenbarten an ihren Innenseiten einen weißen Rand. Was ich gespürt hatte, war ihr Stiel gewesen. Es war nicht das erste Mal. Ich hatte schon einmal Blumen zum Wachsen gebracht. Es war an dem Tag gewesen, an dem ich beinahe mit Kadeijosch geschlafen hätte. Kurz stieg die Erinnerung an die Lust, die ich damals für ihn empfunden hatte, in mir hoch. Hugorios Finger schlossen sich enger um meine Hand und erinnerten mich an seine Anwesenheit. Ich versuchte mich ihm zu entreißen, doch er hielt mich fest. Mit geschlossenen Augen und einem Ausdruck puren Genusses lag er neben mir. Verschmitzt lächelnd öffnete er seine Lider. »Du bist wirklich eine leidenschaftliche junge Frau. Tu mir einen Gefallen, denk an deine gemeinsamen Nächte mit Michael. Ich möchte wissen, welches Verlangen du empfindest, wenn du verliebt bist.«
Meine freie Hand verformte sich zu einer Faust. Jeder Impuls meines Körpers befahl mir, ihm ins Gesicht zu schlagen. »Verletz dich bitte nicht«, bat er mich grinsend, während er meine Hand noch kräftiger umschloss. Dass Hugorio diese Momente mit mir erlebt hatte, war mir nicht nur peinlich und verunsicherte mich, sondern machte mich auch wütend. Meine Emotionen verhinderten, dass ich den Filguri, der mittlerweile amüsiert neben mir saß und mich beobachtete, mit meiner eigenen Energie aus meinem Körper drängte. Als er mich schließlich losließ, rappelte ich mich auf und setzte mich auf einen umgestürzten Baumstamm. »Ich kann selbstständig gehen. Es wird Zeit, Michael anzurufen.«
»Ich habe mein Handy nicht dabei. Morgen, wenn wir zum Anwesen zurückkehren, rufe ich ihn an«, klang Hugorio noch immer viel zu belustigt.
»Nein, sofort!« All meine Proteste konnten an seinem Entschluss nichts ändern. Seine Augen verdunkelten sich. »Noch ein Wort, und wir bleiben zwei Tage länger.«
Schweigend drehte ich ihm den Rücken zu und stapfte tiefer in den Wald hinein.
»Falls du Lust hast, können wir schwimmen gehen. Es gibt hier in der Nähe einen See«, erklärte er, als wäre nichts vorgefallen.
Stimmt, der See! Bei meinem letzten Besuch flog ich mit Xipsy darüber hinweg. Diesen See musste ich mir ansehen, um endlich mit Sicherheit zu wissen, ob ich geträumt hatte oder nicht.
»Melanie, was ist, gehen wir schwimmen?«, verlangte Hugorio hinter mir ungeduldig. Sollte er glauben eine Antwort von mir zu erhalten, dann hatte er sich getäuscht. Ich warf ihm über meine Schulter einen verächtlichen Blick zu und ging unbeirrt weiter, bis er mir mit verschränkten Armen den Weg versperrte. »Ganz, wie du willst. Für jeden Tag, den du schweigst, verlängern wir unseren Aufenthalt.«
Nun drohte er mir auch noch! Meine Augen verengten sich. Ich fasste nach einem abgerissenen Ast und warf ihn mit aller Kraft nach ihm. Lachend fing er ihn aus der Luft, bevor er mir mit der Hand den Weg wies: »Hier entlang, bitte.«
Wenig später stand ich auf einem großen Stein und sah mit einem selbstzufriedenen Grinsen über den See hinweg, den ich mit Xipsy überflogen hatte. Wusste ich es doch! Meine Freude ließ Hugorio misstrauisch werden. Zaghaft griff er nach meiner Hand. Ich ließ seine Berührung zu und zeigte ihm die Bilder von mir und Xipsy aus meiner Erinnerung. Wie wollte er das mit einem Traum erklären. Kurz schien er panisch, dann zuckte er mit den Schultern, unterbrach unsere Verbindung und setzte sich völlig unbeeindruckt auf den Boden. »Melanie, solche Seen gibt es zu Hunderten. Das bedeutet gar nichts.« Während er sprach, ruhte sein Blick auf der Wasseroberfläche. Danach sprang er auf, klopfte sich auf die Oberschenkel und verformte seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Ich bin gleich wieder da.«
»Was hast du vor?« Noch ehe ich ausgesprochen hatte, war er verschwunden. Verwirrt blickte ich mich um. Wie nett von ihm, dass er mich mitten in der Wildnis ohne Vorwarnung alleine ließ. Ich wusste noch nicht einmal, in welchem Land wir waren. Bei dem Gedanken an die Raubtiere, die möglicherweise in diesem Wald lebten, erhöhte sich mein Puls und pochte in meinen Ohren. Eine Bewegung bei den Bäumen auf der anderen Seite des Ufers erregte meine Aufmerksamkeit. Ängstlich durchsuchte ich das hohe Gebüsch mit meinem Blick, bis ich seine Anwesenheit fühlte und mich entspannte. Er war da, der Fremde aus Kadeijoschs Hütte. Mit meiner Hand schützte ich meine Augen vor der blendenden Sonne, um besser sehen zu können. Zwischen zwei Bäumen stand er. Ein Mann, der nicht viel größer war als ich, mit einem blauen Pullover, dessen Kapuze ihm bis ins Gesicht hing. »Kannst du mich bitte zu Michael bringen!«, rief ich, ohne zu überlegen.
»Mit wem sprichst du?« Erschrocken starrte ich Hugorio an, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Er suchte die Stelle, die ich angesprochen hatte, mit seinem Blick ab, dann betrachtete er mich besorgt. »Geht es dir gut?« Achtlos ließ er die Tasche, die er mitgebracht hatte, zu Boden fallen und legte seine Handflächen auf meine Wangen. Der Fremde, mein persönlicher Schutzengel, gehörte mir. Ich wollte ihn mit niemandem teilen, daher sperrte ich den Filguri aus, ging in die Knie, um mich seiner Berührung zu entziehen, und blickte neugierig in die Tasche.
Hugorio hockte sich vor mich. »Melanie, bitte sprich mit mir!«
»Du weißt doch, wie ich bin. Wie immer habe ich nur geträumt«, erwiderte ich, schnappte mir einen der Badeanzüge und streckte ihn ihm provokant entgegen. »Was soll das alles?«
Hugorio musterte mich verwirrt. »Ich hatte vermutet, dass du nicht nackt schwimmen willst. Aber nur zu, lass dich nicht aufhalten«, neckte er.
»Du weißt, dass ich nicht davon spreche. Ich bin dir für deine Fürsorge dankbar. Nur kann ich mir dein Verhalten nicht erklären. Du kümmerst dich um mich, besuchst mich mehrmals am Tag, tröstest mich, versprichst, dass du Michael anrufen würdest, sobald ich selbstständig laufen könnte. Aber nun, wo es so weit ist, denkst du nicht daran, ihn zu verständigen und willst mit mir schwimmen gehen!« Inzwischen klang ich nahezu hysterisch und es wurde mit jedem Wort schlimmer: »Woher kommt dein Interesse an mir? Du kannst mir nicht einreden, dass du mir nur Michael zuliebe hilfst!«
»Wie oft soll ich noch sagen, dass du mich faszinierst! Du bist das einzigartigste Wesen, das mir je begegnet ist. Außerdem wird mir Michael im Gegenzug etwas geben, das mir wichtig ist und das nur er mir geben kann. Was dich betrifft, so will ich nur dein Bestes.« Bei seinem letzten Satz loderte Sehnsucht in seinen Augen.
Prüfend neigte ich den Kopf zur Seite. »Was wird dir Michael geben?«
»Melaniiie«, zog er meinen Namen flehend in die Länge. »Was ich und Michael vereinbart haben, muss er dir verraten.«
Das hörte sich nicht gut an! Welche Abmachung hatte Michael nun schon wieder getroffen? Würde er jemals dazulernen? Mit aller Kraft schleuderte ich den Badeanzug auf die Tasche und stapfte mit betonten Schritten in Richtung Hütte zurück. Ein Blick nach hinten verriet mir, dass mir Hugorio folgte. Als ich die Veranda erreichte, klopfte er mir auf die Schulter. »Ich rufe jetzt Michael an.« Versöhnend streckte er mir die Hand entgegen. Als ich sie nicht nahm, bekamen seine Augen erneut diesen sehnsüchtigen Glanz. Plötzlich schlich eine angsterregende Kälte über meine Haut. Panisch ergriff ich nun doch seine Hand und krallte mich daran fest. Ich wollte ihn warnen, ihm mitteilen, dass wir in Gefahr waren. Mein Gefühl hatte mich noch nie betrogen. Wenn jemand in meiner Umgebung mir gegenüber negative Emotionen hegte, dann spürte ich es. Ich ließ meine Energie in den Filguri gleiten. Sofort vermittelte er mir: ›Ich spüre den Hass ebenfalls. Verhalte dich, als wäre alles in Ordnung. Wir gehen ins Haus.‹ Scheinbar unbekümmert legte er seine Hand auf meinen Rücken und führte mich durch die Eingangstür. Kaum fiel sie ins Schloss, schlang er seine Arme um mich, hob mich an und im nächsten Moment waren wir auf seinem Anwesen in Kalifornien. Wie einen leblosen Gegenstand drückte er mich William, der auf uns zugeeilt kam, in die Arme. »Die Hütte wird belagert«, erklärte er ihm rasch und verschwand.
»William, bitte lass mich hinunter.« Auf meine Bitte hin stellte mich der blonde Vampir behutsam auf meine Beine, wobei er nie seinen stützenden Halt von mir löste. Er hatte keine Ahnung, dass ich wieder selbstständig stehen konnte. Bedauerlicherweise glaubte er mir auch nicht, dass es so war. Er trug mich in Hugorios Villa und legte mich auf jener Couch ab, auf welcher ich vor dem Ritual mit Michael gesessen hatte. Dort bewachte er mich, bis sich Hugorio am nächsten Morgen neben uns materialisierte. »Habt ihr sie erwischt?«, fragte William Hugorio als Erstes.
Hugorio zwinkerte William verschwörerisch zu und antwortete: »Nein, aber ich habe eine Überraschung für Melanie.«
Er streckte mir die Hand entgegen. »Komm mit, ich zeige sie dir.«
Da ich ihm den körperlichen Kontakt verwehrte, ging er wortlos voran. Er brachte mich zu der Tür, die in den Raum führte, in dem ich in den letzten Wochen gewohnt hatte. Als er sie öffnete, sah ich Michael. Ich drängte mich an Hugorio vorbei. Im selben Moment sprang Michael auf. Bevor ich einen weiteren Schritt machen konnte, wirbelte er mich durch die Luft. »Ich liebe dich! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe«, küsste er mich überschwänglich. Glücklich sank ich in seine Arme, genoss die Wärme seines Körpers und hauchte: »Ich liebe dich auch.«
»Melanie, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe. Abends nach der Arbeit nicht dein fröhliches Lächeln zu sehen, auf deine liebevollen Umarmungen zu verzichten und nicht zu wissen, ob mich diese gutmütigen blauen Augen jemals wieder betrachten würden, war unerträglich. Wie sehr habe ich mir gewünscht, noch einmal mit dir auf der Jacht zu sein. Die Welt mit dir zu bereisen. Dich ganz für mich alleine zu haben. Eine Familie mit dir zu gründen.«
Ja, das wünschte ich mir ebenfalls! Über eine Woche hatten wir auf seinem Boot unseren Traum gelebt, bis mich Antonia aus Leichtsinn den Lustraren auslieferte. Ich küsste Michael, als wollte ich mit der Familiengründung sofort beginnen. Mit aller Kraft presste ich mich an ihn. Erst Hugorios Räuspern erinnerte mich, dass wir nicht alleine waren. Er und William beobachteten uns von der Tür aus.
»Findest du nicht, dass wir den Turteltäubchen ein wenig Privatsphäre gewähren sollten? Ich denke, Melanie hat es sich hart verdient«, stellte William fest.
Hugorio verzog unglücklich die Mundwinkel, stimmte ihm dann jedoch zu. »Das hat sie sich wirklich.« Er zwinkerte mir zu, bewegte seine Finger verabschiedend und schloss langsam die Tür von außen. Es war, als würden sie uns in einen Käfig stecken, damit wir uns paaren. Ich war doch kein Tier, dem man vorschrieb, wann es Sex haben sollte.
Michael küsste mich lachend. »Ich denke, das hat er absichtlich gemacht.«
»Was hat er absichtlich gemacht?«
»Uns wie Zuchtvieh zu behandeln.« Für Michael war ich ein offenes Buch. Er legte sich mit mir auf das Bett, hauchte mir einen Kuss auf die Haare und schlang seine Arme um mich. »Mach dir nichts daraus. Ich bin wochenlang neben deinem Bett gesessen und habe zugesehen, wie du dahinvegetierst, ohne zu wissen, ob du je aufwachst. Du kommst mir momentan zu zerbrechlich vor. Ich habe viel zu viel Angst, dich zu verletzen, als dass ich es wagen würde, mit dir zu schlafen.« Sanft strich er mir mit zwei Fingern über die Wange, als hätte er Angst, dass ich bei einer kräftigeren Berührung zerberste. »Ich bin froh, wenn ich dich festhalten und mit dir sprechen darf«, flüsterte er. Mein Mund wurde trocken. Würde er mich ab nun wie ein rohes Ei behandeln? Ich wollte nicht ständig wie eine Porzellanpuppe angefasst werden. Es sollte so sein wie früher. Nun war ich erleichtert, dass mich Michael in meinem früheren Zustand nicht gesehen hatte. Er hätte mich nie wieder berührt. Lange lagen wir auf meinem Bett und kommunizierten mit unseren Augen. Liebe, Hingabe und die unausgesprochene Drohung, jeden zu töten, der mir etwas antun wolle, las ich in seinen. Immer wieder lächelte er andeutungsweise und streichelte mir die Wange oder drückte mir einen keuschen Kuss auf den Mund, als wäre ich alles, von dem er jemals geträumt hatte.
Ich vergrub mein Gesicht in seiner Brust. »Dürfen wir nun gemeinsam glücklich werden?« Seine einzige Antwort war ein Kuss auf meine Haare, bevor er seinen Kopf auf meinen legte. »Hugorio sagt, du könntest dich an nichts erinnern. Ist das wahr?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Ja, das ist es. Er hat gesagt, dass mich Ziwik beinahe getötet hätte.«
Michael hob den Kopf und verkrampfte sich schlagartig. Sein Blick wurde leblos, als versuchte er, eine schmerzliche Erinnerung zu verdrängen. »Ja, du wärst fast gestorben.«
»Und hat ihn Kadeijosch anständig vermöbelt?«, scherzte ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
Michael erstarrte. »Na, was ist? Hat ihn Kadeijosch nun grün und blau geprügelt?«, fragte ich, da er nicht antwortete.
Als er endlich sprach, lag Eiseskälte in seiner Stimme: »Das hast du selbst getan. Du hast diesem Schwein ordentlich zugesetzt. Er benötigte Wochen, um zu heilen.«
Verblüfft drehte ich mich in seinen Armen, damit ich sein Gesicht sehen konnte. »Wie habe ich das denn geschafft?«
Michael zuckte mit den Achseln. »Melanie, ich finde, wir sollten dich zuerst aufpäppeln, bevor wir diese Dinge besprechen.«
Schlagartig verspannte ich mich. Was verheimlichte er mir? Was war noch geschehen? Gab es etwas, von dem sie glaubten, ich würde es nicht verkraften? Ich erinnerte mich an das tiefe Gefühl der Trauer, das ich nach dem Erwachen empfunden hatte. Die Furcht in mir wuchs, bis ich sie nicht mehr zu beherrschen vermochte. Meine Hände zitterten. Was war so schlimm gewesen, dass ich es verdrängt hatte? Angsttränen stiegen mir in die Augen. »Ist etwas mit Elke passiert? Geht es meiner Schwester gut?«
Michael blickte mir überrascht in die Augen. »Elke ist in London. Sie ist inzwischen kugelrund. Sie ist wohlauf.«
Nein! Diesen Schmerz, jemanden verloren zu haben, ich spürte ihn deutlich! Rasch sprang ich aus dem Bett. »Woher soll ich wissen, dass du mich nicht belügst? Nichts auf dieser Welt könnte Elke von mir fernhalten.« Meine Unterlippe vibrierte, als ich sein Gesicht musterte. »Wo ist meine Schwester?«, begann ich wie von Sinnen ein und denselben Satz zu brüllen. Michael wollte mich umarmen. Ich schlug auf ihn ein und schrie unbeirrt weiter.
Mit einem lauten Knall löste sich die Zimmertür aus den Angeln und fiel krachend zu Boden. Hugorio, der ins Zimmer gestürmt war, stieß Michael von mir. Trotz meiner Gegenwehr umarmte er mich und versuchte mit mir so zu kommunizieren, wie nur wir es konnten. Ich wehrte ihn bedingungslos ab. Ich wollte meine Schwester haben. Panisch wand ich mich in seinen Armen. »Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen?«
Michael presste mir ein Telefon ans Ohr. Durch den Hörer vernahm ich jene Stimme, die mich augenblicklich verstummen ließ. »Sis, ich bin es, mir geht es gut. Melanie, mir geht es gut und deinem Neffen auch. Er tritt wie ein Weltmeister. Man kann kleine Beulen auf meinem Bauch sehen, wenn er strampelt«, sprach Elke beruhigend ins Handy.
Lächelnd wischte ich mir die Tränen von den Wangen. »Es geht ihr gut! Es geht ihr gut!«
Der intensive Blick des Filguri haftete an mir. »Ja, es geht ihr gut«, bestätigte er besorgt und drückte mich fest an sich. Als ich meine Arme nach Michael ausstreckte, gab er mich frei und erlaubte dem Peri zu mir zu kommen. Erschöpft ließ ich mich in Michaels heilende Umarmung fallen. Als mein Puls sich wieder normalisiert hatte, sagte Hugorio: »Michael, auf ein Wort.« Bevor er erhobenen Hauptes die Tür mit ein paar Fingerzeichen reparierte und den Raum verließ.
Michael zuckte mit den Achseln und folgte ihm wie jemand, der wusste, dass es unangenehm werden würde. Er zeigte keine Schwäche, dennoch fühlte ich seine Aufregung. Ich hatte Michael gerade erst zurückbekommen und war nicht bereit, ihn gehenzulassen. Daher stand ich auf, um ihnen zu folgen. Nicht Hugorio, sondern Michael wandte sich mir zu. »Melanie, warte bitte hier auf mich.«
Trotzig stemmte ich die Hände in die Hüften. »Nein, ich spüre doch, dass etwas nicht stimmt!«
»Ich musste Elke anrufen, um dich zu beruhigen. Ryoko weiß nun, dass du wach bist, und mit ihm auch die anderen Drachen. Schatz, du bist emotional noch völlig verstört. Ich möchte nicht riskieren, dass du dich aufregst«, antwortete er geduldig. Ehe ich fähig war, mich zu bewegen, sprintete er mit übermenschlich schnellen Schritten aus dem Raum. »Michael, warte!«, rief ich, als ich hörte, wie er den Raum von außen verschloss. Er hatte mich tatsächlich eingesperrt. Dieser ...! Wütend sank ich aufs Bett und wartete. Wenn er mir sein Handy dagelassen hätte, könnte ich wenigstens mit Elke telefonieren. Ich sprang auf. Frustriert wanderte ich im Zimmer auf und ab und hoffte, dass mich endlich jemand abholte. Stunden später nahm ich mir einen der Pyjamas, die der Filguri für mich besorgt hatte, und legte ihn auf das Bett. Ich schlüpfte aus meinem T-Shirt. Wehmütig betrachtete ich die Narben auf meinem Oberkörper. Der Gedanke, dass Michael sie sehen könnte, war unerträglich. Während ich in seine Arme geschmiegt gewesen war, hatte ich für kurze Zeit vergessen, dass ich entstellt war. Es kam mir unreal vor. Michael schien es nicht bemerkt zu haben. Er hatte mich weder kritisch angesehen noch den Blick abgewandt. Vermutlich hatte er meine Male schon zuvor, als ich im Koma gelegen war, gesehen. Im Gegensatz zu jenen auf meinen Händen und Armen waren die Narben auf meinem Oberkörper nicht unscheinbar. Sie waren aufgedunsen und hatten eine erschreckende Ähnlichkeit mit überlangen Engerlingen. Warum hatte dieser verdammte Filguri diese Wunden nicht ebenfalls geheilt? Laut William hatte ich nur überlebt, weil Hugorio dort gewesen war. Ohne seine jähe Hilfe wäre ich gestorben. Er hatte all meine anderen Verletzungen unverzüglich versorgt. Ich wollte ja nicht undankbar sein, aber weshalb hatte er nicht auch noch diese Wunden behandelt? Den Anblick meines nackten Oberkörpers wollte ich keine Sekunde länger ertragen. Schnell zog ich mir mein Oberteil über. Ich lag auf dem Bett und überlegte, ob ein Arzt an meinem Narbenbild etwas verändern könnte, als William mit etwas zu essen und zu trinken ins Zimmer kam. Er stellte die Mahlzeit auf den kleinen Tisch, der in einer Ecke stand. Sein Blick fiel auf mich, bevor er sich umwandte und zum Gehen ansetzte.
»Wieso hat Hugorio nicht auch jene Verletzungen, die für meine Vernarbungen verantwortlich sind, geheilt?«, fragte ich leise. Ich schämte mich für meine Frage. Sie klang vorwurfsvoll und undankbar, dennoch musste ich sie stellen. William setzte sich auf einen Stuhl neben mich. »Ich habe mich schon gewundert. Mit dieser Frage hatte ich früher gerechnet. Er hat sie geheilt. Doch sie erschienen sofort wieder. Als er erneut versuchte, sie zu heilen, hast du ihn ausgesperrt. Du hast ihn daran gehindert.«
Ein schüchternes Klopfen unterbrach unser Gespräch. Jonas, einer der Kronjuwelen aus Hugorios Sammlung, blickte zur Tür herein. »Hallo, Melanie, ich hoffe, ich störe nicht.«
Ich begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. Jonas war wie ich der einzige seiner Art. Hugorio hatte ihn in einem Wald gefunden, nachdem Lustrare seine gesamte Familie, die letzten Formwandler, ausgelöscht hatten. Er zwinkerte mir zu. »Ich muss diesen Vampir kurz entführen. Hugorio verlangt nach ihm.« Mit einer Kopfbewegung forderte er William auf mitzukommen. Dieser klopfte mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel und erhob sich. »Ich muss dann wohl. Bis später.«
Betrübt beobachtete ich, wie die beiden die Tür hinter sich schlossen. Inzwischen war ich mir nur einer Sache sicher: Es gab Dinge, von denen man nicht wollte, dass ich sie wusste. Meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass Unwissenheit gefährlich war. Daher kletterte ich aus dem Bett und schlich mit einem mulmigen Gefühl aus dem Zimmer. Hoffentlich begegnete mir keines von Hugorios Haustieren. Bei dem Gedanken daran schüttelte es mich. Mir war nicht danach, von einem Tiger gefressen zu werden. Da ich keine Ahnung hatte, wohin Michael und Hugorio gegangen waren, verließ ich das Nebengebäude, in dem mich der Filguri untergebracht hatte und ging auf die Villa zu. Ich fürchtete, jeden Moment einem tasmanischen Tiger oder einem anderen von Hugorios Raubtieren gegenüberzustehen. Ich hoffte, dass mich eines der übernatürlichen Wesen auf diesem Areal im Notfall retten würde, wenn ich laut genug schrie. Die Umgebung des Gebäudes war wie leergefegt. Kein einziges seiner Tiere befand sich in Sichtweite. Vorsichtig pirschte ich mich durch die Villa an Hugorios Wohnzimmer heran und starrte gebannt durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür. Knarrend wurde sie von innen geöffnet und Hugorio sah mich vorwurfsvoll an. »Wir haben gesagt, dass du im Zimmer warten sollst!«
»Du hast ihr nichts zu befehlen! Sie ist eine Drachin. Sie untersteht dir nicht!«, übertönte Henrys Stimme Hugorio. Henry war einer der amerikanischen Drachen. Ich hatte ihn in Schottland kennengelernt. In seiner Drachenform hatte er schwarze Schuppen. Seine Anwesenheit erklärte, weshalb sich die Raubtiere von Hugorios Villa fernhielten. Sie hatten einen noch gefährlicheren Jäger gewittert. Henry, ein großgewachsener Mann mit Glatze, zwirbelte seinen geschwungenen Oberlippenbart mit Daumen und Zeigefinger nach oben. »Wie geht es dir, kleine Schwester?«
»Ganz gut. Ist Kadeijosch auch hier?« Suchend sah ich mich um. Tetlef, der rote Drache, stand neben Henry. Kadeijosch, einer meiner besten Freunde, fehlte. Inzwischen konnte ich entscheiden, wie ich die Drachen sehen wollte. Das war nicht immer so gewesen. Kadeijosch hatte mich gelehrt, sie als Menschen wahrzunehmen. Freundlich nickte ich Tetlef, Kadeijoschs Vater, zu. Wie immer trug er den Kragen seines Ledermantels aufgestellt und hatte seine Augen mit einem schwarzen Kajal umrandet. Er zwang seine Lippen zu einem schiefen Lächeln und zwinkerte mir zu. Aus dem Schatten einer Statue trat Ziwik, der graue Drache, der für mein Koma verantwortlich gewesen war. Hier stand er, nur wenige Meter von mir entfernt, jener Drache, der mich lieber Tod sähe als mir zu erlauben ein eigenständiges Leben zu führen, und strich sich seine langen blonden Haare aus dem Gesicht. Meine Knie und Hände begannen zu zittern. Instinktiv wich ich mehrere Schritte zurück. Ich verlor jede Kontrolle über meinen Körper und sank schlotternd in die Knie. Ich konnte nicht fassen, wie sehr ich ihn fürchtete.
Ziwik verhielt sich, als wären wir beste Freunde. Er ignorierte meinen verängstigten Zustand und trat an mich heran. »In dem Moment, in dem uns Ryoko mitteilte, dass du aufgewacht bist, sind wir losgeflogen. Du hättest sehen sollen, wie schnell die kleine Sammlung des Filguri das Weite gesucht hat, als wir hier am Gelände zur Landung ansetzten.« Mit jedem Schritt, den er näher an mich herantrat, zuckte ich zusammen. Tetlef stellte sich schützend zwischen uns. »Ziwik, ich finde, du solltest gehen!«, sagte er mit einem Unterton, der jede Widerrede verbat. Dennoch setzte Ziwik seinen Weg fort, bis sich Henry neben Tetlef begab. »Geh jetzt!« Auch seine Stimme erlaubte keine Widerworte.
Amüsiert schüttelte Ziwik den Kopf, zwinkerte mir noch einmal zu und verließ den Raum, während ich wie ein Häufchen Elend am Boden kauerte. Ich hatte keine Erinnerung an Ziwiks Übergriffe. Doch diese unerträgliche Angst, die mein Herz wie eine eiskalte Hand umklammerte, ließ mich erahnen, was er mir angetan hatte. Unfähig zu atmen fühlte ich, wie Henry seine Arme um mich legte. Dieses langezogene Shhh - Geräusch, das auf Drachinnen wie mehrere Tabletten Valium wirkte, drang aus seiner Kehle. Diesmal hatte es nicht die geringste Wirkung auf mich. Alles, was ich wahrnahm, waren diese enorme Furcht und eine mir unerklärliche Trauer. Der Käfig aus Schmerz und Furcht, der mich lange Zeit in einem Koma gefangen gehalten hatte, drohte sich erneut um mich zu schließen. Michaels sanfte Hände auf meinen Wangen animierten mich, die Augen zu öffnen. Liebevoll küsste er mich auf die Lippen. »Ich werde nicht zulassen, dass er dich verletzt.«
Weinend schlang ich meine Arme um ihn und erlaubte ihm meinen Schmerz mit mir zu teilen. Er war meine Rettungsleine. »Das wird nie aufhören - oder?«, schluchzte ich.
Michael küsste mein Haar, während er meinen Kopf an seine Brust drückte.
»Wird das jemals aufhören? Ich kann nicht gewinnen - oder?«, flüsterte ich verzweifelt.
Seit sich die Drachen und Filguri ungewollt durch ihren Hass verflucht hatten, gab es kein weibliches Wesen, das mehr als ein Achteldrache war. Ich war nur ein Sechzehnteldrache, doch im Gegensatz zu den anderen war mein Vater ein übernatürliches Wesen. Somit war ich der einzige Mischling aus zwei übernatürlichen Arten, der je existiert hat. Niemand wusste, wie mein Dasein möglich war. Vielleicht würde ich es eines Tages herausfinden. Meine bloße Existenz brach alle bekannten Regeln der magischen Welt, daher hofften die Drachen, dass ich die Fähigkeit besäße, mit einem männlichen Drachen weibliche Nachkommen zu zeugen. Sie sahen in mir ihre große Hoffnung, ihre aussterbende Art zu retten. Die Lustrare erkannten genau dasselbe in mir, nur war dies der Grund, warum sie mich um jeden Preis tot sehen wollten. Sie waren eine Gruppierung übernatürlicher Wesen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die alten zu mächtigen Arten zu vernichten. Und zwischen diesen beiden unerbittlichen Fronten standen Michael und ich. Michael war zwar ein einflussreicher Peri, aber er konnte sich mit den Drachen nicht messen. Trotzdem war ich überzeugt, dass es keinen Ort gab, an dem ich mich sicherer fühlen konnte als bei ihm. Während mich Tetlef und Henry unglücklich beobachteten, beruhigte ich mich in seinen Armen.
Tetlef schüttelte wehmütig den Kopf. »Kadeijosch hatte recht, wir werden sie zerstören.«
Hugorio kniete sich neben mich und Michael. Er fixierte den roten Drachen mit seinen blauen Augen. »Wenn wir sie vorerst nicht vor emotionalem Stress bewahren, kann ich für ihre weitere Genesung nicht garantieren. Flüchtet sie sich erneut in diesen komatösen Zustand, wird sie vielleicht nie mehr erwachen. Ihr solltet dem Mädchen Zeit geben und dieses graue Monster Ziwik von ihr fernhalten. Wir haben vor langem Frieden geschlossen. Richtet diesem Arschloch aus, dass ich ihn dennoch töte, falls er mein Grundstück jemals wieder betritt. Sollte es dazu kommen, rechne ich mit eurem Verständnis.«
Tetlef deutete ein Nicken an. Er stellte sich neben mich. »Mach`s gut kleiner Drache, wir sehen uns.«
Michael hob mich wie ein federleichtes Spielzeug hoch. »Komm, ich bringe dich hier raus.«
»Wo ist Kadeijosch? Warum ist er nicht mit euch gekommen?«, fragte ich mit labiler vibrierender Stimme.
Michael erstarrte mitten in seiner Bewegung. Mehrere Male atmete er tief durch, während er mich intensiv betrachtete. Ich hatte befürchtet, dass ihn meine Frage verletzen würde. Nur verstand ich nicht, wieso Tetlef und Henry sofort angereist waren, und Kadeijosch nicht. Tetlef blickte aus den Augenwinkeln zu Hugorio, der leicht den Kopf schüttelte.
»Kadeijosch ist leider verhindert.« Tetlef schien an seiner Antwort zu ersticken. Daher glaubte ich ihm kein Wort. Sie verheimlichten mir etwas. Ich musste es wissen. Auch wenn es Michael verletzte, dass ich nach meinem ehemaligen Verehrer verlangte. Diesmal würde ich keine Rücksicht nehmen. Wieder und wieder fragte ich sie, bis Hugorio schließlich frustriert fluchte: »Du hast ihn abgewiesen. Er hat sich wochenlang um dich bemüht, und du hast ihm einen Korb nach dem anderen gegeben. Gib dem armen Mann Zeit, um sich davon zu erholen!«
Tetlef schnaufte verächtlich. Schüchtern suchte ich seinen Blick. Als sich unsere Augen trafen, hoffte ich, dass er Hugorios Aussage verneinen würde, dass ich meinen guten Freund nicht so sehr gekränkt hatte, wie der Filguri es behauptete. Kadeijosch war bereit gewesen, mich zu heiraten, damit ich für die anderen Drachen uninteressant würde, um mich dann zu Michael zurückzuschicken. Die Vorstellung, seine Freundschaft verloren zu haben, trieb mir erneut Tränen in die Augen.
Tetlef wandte angewidert den Blick von mir ab. Die Luft um ihn herum schien vor Zorn zu vibrieren. War er wegen meines Verhaltens Kadeijosch gegenüber wütend auf mich? Er schwieg und meine Hoffnung, dass Hugorio sich irrte, schwand. Wehmütig senkte ich den Blick. »Lass uns gehen«, flüsterte ich Michael zu und er trug mich zurück zu dem Nebengebäude, in dem mein Zimmer lag. Als er sich mit mir auf mein Bett legte, sah ich ihn eindringlich an. »Mach dir bitte keine Sorgen. Ich liebe dich, nicht ihn.«
Er küsste mich auf die Stirn. »Das weiß ich doch.«
Fragend blickte ich ihn an. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Ich sorge mich um dich«, gestand er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Erst als er begann, mit seinen Händen meine Arme entlang zu streichen, fiel mir auf, dass ich immer noch zitterte. Seit wann ließ ich mich von jeder Kleinigkeit so aus dem Gleichgewicht bringen? So war ich doch nicht. Müde vergrub ich mein Gesicht in Michaels Brust. »Es tut mir leid, dass ich mich so irrational verhalte.«
Er streichelte mir mit einem Blick, der mir sagte, dass ich das Wichtigste für ihn war, die Wange und drückte mir einen liebevollen Kuss auf die Lippen. »Sobald Stefan und Alessandro eintreffen, brechen wir nach Salzburg auf. Dort wirst du dich schnell erholen. Hugorio konnte die Drachen überreden, dich vorerst mit mir ziehen zu lassen. Seit sie dich mir weggenommen haben, war ich kaum in meiner Villa, in unserem Schlafzimmer überhaupt nie. Es hat mich viel zu sehr verletzt, zu wissen, dass du dort sein solltest, aber es nicht bist. Dass ich es nicht geschafft hatte, dich zu beschützen und vor der Folter dieses ...« Er stockte. »... zu bewahren. Ohne dich erschien alles trostlos. Bevor wir uns kennenlernten, war ich der Welt überdrüssig. Du hast mich ins Leben zurückgeholt, mich dazu gebracht, Freude zu empfinden, an etwas Interesse zu haben. Du hast mir gezeigt, dass es auch noch etwas anderes gibt als die ewig geistlosen Gespräche, die ständige Wiederholung der Geschichte. Vor dir war ich emotional abgestumpft. Du hast das geändert, und dann warst du weg. Mir fehlte die Luft zum Atmen. Zum ersten Mal schaffte ich es nicht, mich auf meine Geschäfte zu konzentrieren. Solange ich dich nur von den Drachen wegholen musste, hatte ich ein Ziel vor Augen. Diesmal konnte ich nichts tun, als neben deinem Bett zu sitzen und zu warten. Nur die Hoffnung, dass du aufwachst, ließ mich weitermachen. Ich liebe dich! Du hättest Hugorio und mir nie über das Gelände folgen dürfen. Was, wenn dich eines seiner Raubtiere erwischt hätte?«
Oh, Michael! Liebevoll streichelte ich ihm über die Wange und küsste ihn, als es an der Tür klopfte. Stefan, Michaels Sohn, und Alessandro, Michaels Enkel, betraten gemeinsam mit vier weiteren Peris mein Zimmer. Sie waren unsere Eskorte für die Reise nach Salzburg. So weit war es gekommen, dass ein einzelner Peri, eines der mächtigsten Wesen dieser Zeit, zu meinem Schutz nicht genügte. Ich ging mit Michael zu den Autos, die vor Hugorios Villa für uns bereitstanden. Der Filguri wartete dort. Zum ersten Mal, seit ich aufgewacht war, schien er mich nicht zu bemerken. Er fixierte Michael mit eindringlichen Augen. »Enttäusche mich nicht!«
Souverän erwiderte Michael die Intensität seines Blicks. Nach einer hinweisenden Kopfbewegung zu mir deutete er ein Nicken an. Kaum hatte Michael die Tür des Mercedes hinter uns geschlossen, schmiegte ich mich an seine Brust. »Verrätst du mir, was das eben bedeutet hat?«
Als er entschlossen den Kopf schüttelte, spürte ich, wie mein Puls zu rasen begann. »Ich weiß doch, dass etwas nicht stimmt.«
Michael strich bestärkend über meinen Oberschenkel. »Bitte, Schatz, beruhige dich. Es ist alles in bester Ordnung.«
Beruhigen? Ich war doch ruhig! Davon war ich überzeugt, bis ich bemerkte, wie hektisch und verängstigt meine Atmung klang. Seit meinem Zusammentreffen mit Ziwik verhielt ich mich wie ein verschrecktes Kaninchen. Die kleinste Aufregung warf mich aus dem Gleichgewicht. Seelisch schien ich zerbrechlicher denn je zuvor. Die einfachsten Dinge erschienen mir wie unüberwindbare Hürden. Jede Unsicherheit versetzte mich in einen panischen Zustand. Verzweifelt versuchte ich, mich zu konzentrieren. So war ich doch nicht! Ich erkannte mich nicht wieder. Michaels Arme, die nach wie vor um mich geschlungen waren, verstärkten ihren Druck. »Melanie, gib dir Zeit. Glaub mir, in ein bis zwei Wochen bist du ganz die Alte.« Seine Worte hätten mich optimistischer gestimmt, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, dass er sich selbst ebenso Mut zusprach wie mir. Trotzdem wusste ein Teil von mir, dass er recht behalten würde. Diesen Schock würde ich überwinden wie jeden zuvor.