Leseprobe

Filguri

Spiel mit dem Schicksal

Reihe: Filguri


Das Geheimnis

Mariella stand auf der höchsten Terrasse des verlassenen Klosters mitten in den Bergen Tibets. Seit sie denken konnte, war dies ihr Zuhause. Gedankenabwesend glitten ihre Fingerkuppen über die rauen Steine des verwitterten Mauerwerks. Die letzten Sonnenstrahlen liebkosten wärmend ihre Haut, bis deren Verschwinden das umliegende Tal in ein sanftes Rot tauchte. Im Farbenspiel der Abenddämmerung erschien der schmale Schotterweg, der sich bis zum Kloster durch die Landschaft schlängelte, mystisch. Wartend ließ sie ihren Blick schweifen. Wann würde ihr Vater Verano zurückkehren?
Ihre Mutter Isabella und sie hatten ein festliches Mahl zubereitet, um seinen Geburtstag zu feiern. Manchmal fragte sie sich, weshalb sie sich überhaupt bemühten, denn jedes Mal lief es auf dasselbe hinaus. Ihre Mutter und sie backten und kochten, nur um anschließend stundenlang auf ihn zu warten. Meistens kehrte er erst kurz vor Einbruch der Nacht zurück. Doch wie sie vor einem Jahr herausgefunden hatte, eilte er dann nicht unverzüglich zu ihnen ins Wohnzimmer, sondern sank bedrückt auf die alte Mauer, an der sie gerade stand. Mit trockenem Mund erinnerte sie sich an diese Entdeckung. An seinem letzten Geburtstag hatte sie sich nochmals in ihr Zimmer begeben, um sich bis zu seinem Erscheinen ein wenig auszuruhen. Ihre Augenlider wurden schwer und senkten sich. Sekunden bevor sie einschlief, spürte sie eine sonderbare Energie auf sich zukommen. Eine Unruhe, wie das Kitzeln tausender Insektenbeine in und auf ihrem Körper, befiel sie und riss sie aus ihrer Entspannung. Rastlos blickte sie sich um. Der gesamte Raum wurde von einer unsichtbaren Macht erfüllt, die sie daran hinderte, liegen zu bleiben. Diese bündelte sich und durchflutete sie mit all ihrer Kraft. Wie eine Wolke aus Licht, die durch dichten Nebel rollt, mit dem Versprechen unendlichen Glücks. Dieses Versprechen ergriff Besitz von ihr und lockte sie die steilen Treppen zum Aussichtsplateau empor. Von Stufe zu Stufe beschleunigte sie ihr Tempo, als erwarte sie die Liebe ihres Lebens. Sie hatte keine Wahl. Als hinge ihr Dasein davon ab, stieß sie die Tür ins Freie auf. Doch wo sie Glück erhoffte, wurde sie von Trauer empfangen.
Ihr Vater saß, mit ihr zugewandtem Rücken, auf der Steinmauer. Mit hängenden Beinen und hinter seinen Handflächen verborgenem Gesicht strömte er eine Hoffnungslosigkeit aus, die ihr den Atem verschlug. Es dauerte eine Weile, bis er sie bemerkte. Ertappt sah er sie an. »Es geht mir gut«, versicherte er ihr. Er gab sich einen Ruck, vergrub all seine Emotionen in sich und behauptete weiterhin, die Welt sei in bester Ordnung. Dann verwandelte er sich in den zufriedenen und fröhlichen Familienvater wie eh und je, der tief in seinem Herzen einen so überwältigenden Schmerz begrub, dass er Mariella damit beinahe erstickte, sobald er ihn für einige Sekunden an die Oberfläche ließ. Die Frage, warum er in Wahrheit so unglücklich war, zählte zu den wenigen, auf die er ihr eine Antwort verwehrte.
Genau aus diesem Grund und da sie die Erinnerung an das stille Versprechen unendlichen Glücks pünktlich um dieselbe Zeit wie vor einem Jahr heimgesucht hatte, wartete Mariella jetzt hier. Getarnt durch einen Zauber, hoffte sie, er würde sich bei seiner Rückkehr unbeobachtet fühlen und ihr aus Leichtsinn einen Einblick in sein Innerstes erlauben.
Ungeduldig rieb sie ihre Handflächen aneinander. Das Rot der Abenddämmerung verblasste und wich dem Schwarz der Nacht. Seufzend massierte sie sich die Schläfen. Länger als an diesem Tag war er an seinem Geburtstag selten fortgeblieben. Sie stand auf, um nach ihm zu suchen. In diesem Moment erschien er aus flackernder Luft neben ihr. Einer der Vorteile, ein Filguri zu sein. Man konnte sich jederzeit an jeden beliebigen Ort teleportieren.
Dank ihres Tarnzaubers bemerkte er sie nicht. Wie erwartet umgab ihn dieser düstere Schleier der Trauer. Sie schluckte, um ihn zu ertragen. Wodurch ein solcher seelischer Schmerz verursacht wurde, wollte sie sich nicht vorstellen. Ihr Vater erlaubte ihm, nur zu fließen, weil er nicht ahnte, dass Mariella anwesend war. So erhielt sie die Möglichkeit, sich darauf einzulassen und erkannte, dass es sich nicht nur um Trauer handelte. Es hatte sich noch eine weitere, sehr intensive Emotion hinzugefügt: Schuld.
Wem gegenüber fühlte sich ihr Vater dermaßen schuldig?
Er zog einen hellblauen Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn und faltete das abgegriffene Papier aus dem Inneren auf. Tränen flossen über seine Wangen, während er ihn las. »Verzeih mir, mein Schatz!« Schluchzend wischte er sich das Gesicht trocken. »Ich wünschte, ich könnte es ändern. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und dir helfen.«
Filguri besitzen viele Fähigkeiten. Jedoch selbst sie vermögen nicht, die Zeit zu manipulieren.
Seufzend zog er einen Stein aus der Klosterwand, hinter dem ein kleiner Hohlraum zum Vorschein kam, versteckte den Brief darin und schob ihn zurück. Dann atmete er schwer aus und versiegelte mit einem weiteren tiefen Atemzug seine Trauer in sich.
Mariella erkannte sofort, dass er sich zu ihnen ins Esszimmer teleportieren wollte, und beeilte sich, um vor ihm dort anzukommen. Sie erschien gerade noch rechtzeitig neben ihrer Mutter und neutralisierte den Tarnzauber, bevor ihr Vater sichtbar wurde. Er schloss sie und ihre Mutter in die Arme. »Ich liebe euch!«
»Wir lieben dich auch«, antwortete ihre Mutter. Doch Mariella schwieg. Nicht, weil sie ihn nicht liebte, sondern weil sie noch mit den Gefühlen, die er zuvor ausgestrahlt hatte, kämpfte. Wie schaffte er das nur? Wie war es ihm überhaupt möglich, zu lachen?
Irritiert musterte er sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sanft floss seine Energie in sie und forschte nach dem Auslöser ihres Gefühlschaos’.
Leider fiel es Mariella wesentlich schwerer, ihre Emotionen zu verbergen, als ihm. Ein Filguri zu sein hatte viele Vorteile. Sie konnte sich mittels ihrer Energie unterhalten und andere Wesen manipulieren. Aber die Empathie, die ihr Vater als großartige Gabe bezeichnete, empfand Mariella als Belastung. Es war ihr nie gelungen, sie völlig zu beherrschen. Daher schätzte sie die Einsamkeit ihres Zuhauses, denn die Gesellschaft anderer strengte sie an.
Die meisten kamen mit ihren Gefühlen nicht zurecht. Besonders intensiv erlebte sie das in kleinen Kneipen, in denen Menschen oder übernatürliche Wesen an Theken lungerten und ihre Probleme wälzten. Den Großteil ihres Lebens hatte Mariella mit ihren Eltern in vollkommender Abgeschiedenheit verbracht. Vielleicht hatte sie deshalb nie gelernt, mit den Emotionen ihrer Umwelt zurechtzukommen. Sie war stets nur mit jenen von Mama und Papa konfrontiert worden. Kopfschüttelnd erinnerte sie sich an ihren ersten Besuch eines öffentlichen Parks. In der Hoffnung, sie fände Kinder zum Spielen, hatten sich ihre Eltern mit ihr dorthin teleportiert. Mariella konnte es kaum erwarten. Sie war so glücklich. Euphorisch rannte sie mitten in die Menschenmenge. Dort geschah es. Zum ersten Mal prasselten die Empfindungen vieler auf sie ein. Freudige, gehässige, ärgerliche, traurige, mitleidige ...
Verzweifelt drehte sie sich im Kreis, schlang ihre Arme schützend um ihren Kopf und versuchte ihnen zu entkommen. Weinend wandt sie sich, bis sie sich unbewusst inmitten all dieser Augenzeugen in Luft auflöste und nach Hause flüchtete. Trotz des Trostes und der Zuwendung ihrer Eltern weigerte sie sich jahrelang, ihre sichere, abgeschiedene Heimat zu verlassen. Inzwischen war es ihr gelungen, die Gesellschaft anderer zu ertragen. Leicht fiel es ihr aber nicht.
›Entschuldige, meine Kleine! Das ist meine Schuld. Wir haben dich zu lange isoliert. Mir war nie bewusst, dass wir Filguri erst im Laufe der Kindheit durch die Konfrontation mit den Gefühlen vieler lernen, mit der uns gegebenen Empathie umzugehen. Du warst einfach schon zu alt, als du dich einer solchen Situation erstmals stellen musstest. Hätte ich geahnt, wie schwer und einsam dein Leben dadurch würde, wäre ich mit euch in eine Stadt gezogen‹, sendicierte ihr Vater. Sendicieren ist diese spezielle Art der Unterhaltung, bei der sich Filguri über ihre Energie verbinden und miterleben, was in ihrem Gegenüber vor sich geht. Nicht in Form von Worten wie bei der Telepathie. Am ehesten gleicht sie einer Kommunikation durch Emotionen. Sie können einander an ihren innersten, tief verborgenen Wahrheiten und Empfindungen teilhaben lassen, sich über die Essenz ihres Seins austauschen, vermögen jedoch auch Teile davon zu verbergen.
Mariella lächelte ihn traurig an. Sie war froh, dass sie es geschafft hatte, ihm den wahren Grund für ihr Gefühlschaos zu verheimlichen. ›Ihr hattet doch keine Wahl. Wir durften nicht auffallen‹, entgegnete sie mittels dieser stummen Art der Verständigung.
›Trotzdem hättest du nicht so darunter leiden dürfen‹, bedauerte ihr Vater.
Das vorwurfsvolle Räuspern ihrer Mutter riss sie aus ihrer energetischen Konversation.
Schuldbewusst drehten sie sich ihr zu und zuckten entschuldigend mit den Achseln. Ihrer Mutter missfiel es, wenn Mariella und ihr Vater sie auf diese Weise ausschlossen. Sie war keine Filguri und zum größten Teil Mensch. Ihr übernatürlicher Anteil rührte von den Drachen her. Das, was sie war, wurde gemeinhin als Achteldrachin bezeichnet. Folglich blieb ihr das Sendicieren versagt. So wie sie auch über all die anderen Kräfte ihrer Familienmitglieder nicht verfügte. Ihr war es egal, dass sie sich nicht teleportieren oder Dinge durch die Luft schweben lassen konnte. Aber es störte sie, dass es ihr verwehrt war, auf diese Art zu kommunizieren. Oft schwärmte sie von der Verbundenheit, die man dadurch wohl erfahren müsse, und wie gern sie auch nur einmal an einer solchen Unterhaltung teilhaben wolle.
Mariella, die ihre Mutter gut genug kannte, um zu wissen, was in ihr vorging, zwinkerte ihr tröstend zu. »Glaub mir, so toll ist es gar nicht.«
»Das sagst du nur so«, antwortete ihre Mutter. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Geburtstagstorte.
»Alles Gute zum Geburtstag!«, fiel Mariella auf ihre Aufforderung hin Verano um den Hals.
Fröhlich bat ihn Isabella, sich zu setzen, und lud ihm ein riesiges Stück Schokoladentorte auf den Teller. Verliebt und überglücklich bedankte er sich bei ihr und gab vor, der zufriedenste Mann auf der Welt zu sein.
›So ein verdammter Lügner!‹ Mariella verkrampfte ihr Gesicht. Es missfiel ihr, ihre Emotionen zu verbergen.
Als sie den Blick ihres Vaters einfing, betrachtete sie dieser bereits besorgt. Aufmunternd verzog er die Lippen, doch sie schaffte es nicht, sein Lächeln zu erwidern. Sie hasste es, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ihr Vater täuschte sie, also wieso sollte sie so tun, als wäre alles in Ordnung?
Während sie die Torte aßen und ihrem Vater die Geschenke überreichten, kreisten ihre Gedanken um das geheimnisvolle Schreiben, das gut verborgen in der Steinmauer wartete. Sobald ihre Eltern schlafen würden, wollte sie es lesen und das Geheimnis endlich lüften.

Der Brief

Welcher dieser vermaledeiten Steine war es? Mariella hatte mittlerweile fast an jedem einzelnen geklopft, gerüttelt und ihn mit Zauberformeln beschworen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater ihn magisch versiegelt hätte, nachdem er den Brief in den Hohlraum gesteckt hatte. Andererseits war sie durch seine Gefühle so irritiert gewesen, dass ihr das womöglich entgangen war. Was sollte sie nun tun? All jene Zauber, die ihr in einer solchen Situation helfen könnten, hatte sie bereits ausprobiert. Aber es bestand weiterhin die Möglichkeit, dass sie den richtigen einfach noch nicht gefunden hatte.
Seufzend rutschte sie an der Wand hinab zu Boden. Sie befürchtete, dass sie sich bis zum nächsten Geburtstag ihres Vaters gedulden müsste, um zu finden, was sie begehrte. Wie sollte sie ein weiteres Jahr diese Ungewissheit ertragen? Seit sie ihren Vater vor genau einem Jahr erstmalig hier oben angetroffen und seine Traurigkeit miterlebt hatte, beschäftigte sie das Tag und Nacht. Was fehlte in ihrem Leben, dass ihr Vater niemals vollkommen glücklich war, sondern nur vorgab, es zu sein? Sie atmete tief ein und betrachtete den Vollmond, der das Kloster in ein silberweißes Licht tauchte.
Vermisste er seinen Flosnuri, sein Gegenstück? Lange vor ihrer Geburt hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Nein! So ein Blödsinn! Flosnuris können doch nicht schreiben. Hatte er vor ihrer Mutter eine Frau gehabt, nach der er sich sehnte? Ein Gedanke, der sie viel mehr irritierte, als er es dürfte. Denn immerhin lebte ihr Vater bereits tausende von Jahren und ihre Mutter erst um die sechzig. Natürlich hatte er vor ihr schon Frauen geliebt. Sie dachte an die unzähligen Male, in denen ihre liebevolle, fürsorgliche Mutter Isabella von einer scheinbar unbegründeten Trauer befallen worden war. Stundenlang hatte sie geweint, ohne zu wissen, weshalb.
Mehrfach hatte sie nach solchen angeblichen ›depressiven Anfällen‹ davon gesprochen, einen Psychologen aufzusuchen, aber Vater hatte es ihr jedes Mal ausgeredet.
Mariella hoffte, durch den Brief endlich Antworten auf all diese Ungereimtheiten zu erhalten.
»Was tust du noch hier?«, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Vaters. Er setzte sich neben sie und überschlug die Beine. »Was ist los? Du hast mir vorhin mindestens die Hälfte von dem, was in dir vorgeht, verheimlicht, und nun sitzt du hier und grübelst vor dich hin.«
Kopfschüttelnd starrte sie auf den Steinboden. »Ich frage mich nur, warum ihr manchmal so sehr leidet.«
»Wovon sprichst du? Sorgst du dich um Mama? Ich weiß, sie wird jetzt bald sechzig. Obwohl Menschen für gewöhnlich nur um die neunzig werden, ist es viel zu früh, sich deshalb Gedanken zu machen. Immerhin helfen wir, so gut es geht, magisch nach.«
»Nein, darüber denke ich nicht nach. Du scheinst es jedoch zu tun. Schläfst du deswegen nicht?« Während sie sprach, beobachtete sie, wie ihr Vater besorgt die Augenbrauen kräuselte. Es ängstigte ihn, dass er eines Tages diesen Kampf gegen die Zeit unausweichlich verlieren würde. Nicht heute, nicht morgen, aber vielleicht in hundert oder hundertfünfzig Jahren. Lebte man so lange wie er, erschienen einem sechzig Jahre vermutlich wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
»Du hast mich ertappt, meine Kleine.« Aufmunternd stieß er sie mit der Schulter an. »Verrätst du mir nun auch, was dich beschäftigt?«
»Warum bist du an deinen Geburtstagen immer so traurig? Hat es etwa damit zu tun, dass Mama hin und wieder grundlos weint?«
Teils wütend, teils verzweifelt kratzte er sich durchs Haar. »Nicht schon wieder! Bitte! Es tut mir leid, dass du vor einem Jahr diese Emotionen miterleben musstest. Mich hatten nur ein paar Dinge aus meiner Vergangenheit geplagt, das ist ... war alles.«
»Welche Dinge?«
»Geh schlafen, Kleines! Du siehst müde aus.«
»So funktioniert das nicht mehr. Ich lasse mich nicht jedes Mal, sobald dir eine Frage unangenehm ist, ins Bett scheuchen. Ich bin zwanzig!«
»Ja! Du bist zwanzig Jahre alt. Es wird Zeit, dass du dieses Kloster verlässt und dir die Welt ansiehst. Du bist jung. Du solltest ausgehen, dich verlieben oder dir das Herz brechen lassen. Mach deine eigenen Erfahrungen, anstatt meinen Erzählungen zu lauschen. Ich lebe ja auch erst einige tausend Jahre. Irgendwann gehen sogar mir die Geschichten aus«, scherzte er, um Mariella zu besänftigen. Mit jedem seiner Worte wurde sie zorniger. Sie wollte endlich wissen, wieso sich ihr Vater an seinen Geburtstagen so merkwürdig verhielt? »Wie du möchtest«, entgegnete sie scharf und löste sich in Luft auf, um im Esszimmer zu erscheinen. Sie tarnte sich mit einem Zauberspruch und kehrte zu ihm zurück. Wenn er nicht bereit war, sie einzuweihen, dann würde sie ihm eben hinterherspionieren. Ihr Vater stand vor der Steinwand, in der er den Brief verborgen hatte. Gestikulierend beschwor er einen Zauber, der die magischen Spuren ihrer vorherigen Enttarnungsversuche offenbarte.
›Verdammt.‹ Nun wusste er, dass sie versucht hatte, sein Versteck zu finden.
Suchend sah er sich um. Mariella erstarrte. Erahnte er ihre Anwesenheit?
Zaghaft schlich er an der Mauer entlang. Auf ihrer Höhe stoppte er einen Moment und sah sich misstrauisch um. Mehrere Augenblicke verharrte er, ehe er um die Ecke bog, einen Stein herauszog und erleichtert aufatmete. Vor ihm lag das blaue Kuvert. Rasch versiegelte er sein Versteck wieder und verschwand.
Locker ließ Mariella ihre Handfläche über den kühlen Stein gleiten. Jetzt würde sie die Wahrheit erfahren. Sie legte ihre Finger an die Kanten und zog vorsichtig daran. Doch er war fest verankert. Verflucht! Sie könnte ihn mit Gewalt herausbrechen, aber das würde nur unnötigen Schaden verursachen. Ihr Vater hatte auch keine Kraft anwenden müssen. Am Abend hatte sie beobachtet, wie er den Brief hinter einem Stein versteckt hatte, und nun hatte er ihn hinter einem anderen wieder hervorgeholt. Vermutlich handelte es sich um einen Zauber, der nach einem bestimmten Algorithmus den Ort wechselte. Nun gut. Dann würde sie eben jeden einzelnen Stein der Klostermauer untersuchen. Egal, wie lange es dauerte. Sie rüttelte an den rauen ungleichen Steinen. Als sich schließlich einer bewegte, machte ihr Herz einen Sprung und ihr Puls beschleunigte sich. Endlich! Erfreut zerrte sie daran, bis ihr klar wurde, dass einzig der Zahn der Zeit dafür verantwortlich war. Also schluckte sie die Enttäuschung hinunter und suchte weiter. Noch viele Male wurde sie enttäuscht, bis sie letztlich die richtige Stelle entdeckte. Sie konnte es nicht glauben, als endlich ein Stein aus der Fassade glitt und das blaue Kuvert vor ihr lag. Sie hatte es gefunden. Hastig klopfte sie sich den Staub von den Händen. Ihre Finger strichen vorsichtig, beinahe ehrfürchtig über den Umschlag, ehe sie ihn an sich nahm. Ein merkwürdiges Kribbeln zog sich durch ihren Körper. Zweifel überkamen sie. Was, wenn sich ihr Wahrheiten offenbarten, die ihr Bild von ihrem Vater für immer verändern würden? Eine Ahnung beschlich sie. Danach wäre nichts mehr wie bisher. Nachdenklich teleportierte sie sich in ihr Zimmer und sank auf ihr Bett. Dort blieb sie liegen, starrte auf den hellblauen Briefumschlag und rieb fassungslos ihre Fingerspitzen darüber. Als sie sich letztendlich aufraffte, ihn zu öffnen, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Zaghaft schlug sie die raue Lasche nach oben und holte das gefaltete Papier hervor. In ihrem Kopf gehörte ihr Vater zu den wenigen perfekten Wesen dieser Welt. Frei von Macht- und Habgier, Hass und Missgunst.
War es ein Fehler, an dieser Vorstellung zu rütteln? Nein! Nach allem, was sie in Kauf genommen hatte, um an dieses Schreiben zu gelangen, gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihrem Vater nachspioniert, ihn belogen und damit ihre Grundsätze bereits schändlich verletzt. Entschlossen faltete sie das abgegriffene Briefpapier auf und begann zu lesen:

»Hallo, Papa!«

»Papa?«, wiederholte Mariella ungläubig. Sie war doch sein einziges leibliches Kind. Außer ihr existierten nur Adoptivkinder. Laut seinen Erzählungen nannten ihn diese Verano, nicht Papa. Zwar hatte sie ihre Stiefgeschwister nie kennengelernt, weil man sie und ihre Eltern für tot hielt, aber ihr Vater hatte ihr von jedem einzelnen erzählt. Ihre Angst, dass dieses Schriftstück Dinge offenbarte, die alles veränderten, wuchs und drohte sich sogar zu bewahrheiten. Mit zittrigen Fingern fasste sie sich ein Herz und las weiter:
»Hallo, Papa!
Ich verstehe deine Beweggründe. Du dachtest, für meine Sicherheit wäre gesorgt. Also hast du dich im Verborgenen gehalten, um Mama und meine Babyschwester zu beschützen. Als ich dich nach all diesen Jahren und Ereignissen wiedergesehen habe, fühlte ich mich hintergangen, bis du mir von meiner Schwester berichtet hast. Obwohl es sich anfühlte, als würdest du sie mir vorziehen, konnte ich deine Entscheidungen nachvollziehen. Mein Leben war bereits verdorben. Es gab keinen Grund, nun auch ihres zu zerstören, daher beschloss ich, dir meine Probleme zu verheimlichen. Auf diese Weise hatten sie und Mama die Chance auf ein unbeschwertes Dasein. Ich wollte nicht diejenige sein, die sie ihnen nimmt. Ich liebe euch und darf nicht für eurer Verderben verantwortlich sein. Deshalb verheimlichte ich dir, dass mein Geliebter zuvor von den Drachen und Lustraren entführt worden war und sie mich als Preis für seine Freilassung forderten. Erst nachdem du gegangen warst, erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Bitte, hilf mir! Du schuldest es mir. Laut dir bin ich das mächtigste Wesen dieser Welt, und du hast mich zum schutzlosesten deformiert. Ginge es nur um uns, würde ich dich nie fragen. Doch es geht um unser Baby. Ich flehe dich an! Ich denke nur noch an das Krümelchen in meinem Bauch. Die Vorstellung, dass es dasselbe durchleben muss wie ich in den letzten Jahren, bringt mich beinahe um den Verstand. Mein Kind bedeutet mir alles. Es ist der Beweis für unsere Liebe. Alle stellen sich auf einen Krieg ein. Er ist die Liebe meines Lebens. Du musst uns helfen! Falls ihn jemand aufspüren und heimlich befreien kann, dann bist es du.
Sollte dich dieser Brief nicht rechtzeitig erreichen, sag Mama, dass ich sie liebe und versprich mir, dass du meiner Schwester nie das Gleiche antust wie mir! Lass ihr ihre Kräfte und lehre sie die Geheimnisse dieser Welt! Nur so kann sie überleben.
Du bist meine letzte Hoffnung.
Ich liebe dich!
Melanie

Ps.: Falls du den Brief bekommst und mir dennoch nicht hilfst, bist du für mich gestorben!«/*kursiv Ende

Mit Tränen in den Augen las Mariella den Brief erneut. Verano hatte ihr nie von einer Melanie erzählt. War sie tatsächlich ihre große Schwester? Wenn ja, wieso hatte ihre Mutter sie nie erwähnt? Weshalb hatte ihr Vater ihr von jedem Adoptivkind berichtet, doch nicht von ihrer leiblichen Schwester? Weinte ihre Mutter ihretwegen? Log sie, sobald sie behauptete, nicht zu wissen, was mit ihr los sei? Mariella spürte, wie ihr die Kontrolle über ihre Emotionen entglitt. Ihr Brustkorb zog sich zusammen und drohte sie zu erdrücken. Ihre Unterlippe vibrierte vor Verzweiflung. Es gab nichts, an dem sie sich hätte festhalten können. Keinen Gedanken, der ihr Trost spendete. Ihre Eltern bildeten ihren Lebensmittelpunkt. Seit sie denken konnte, hatte sich ihr Leben um sie und diese Abgeschiedenheit gedreht. Sie besaß nicht einmal eine beste Freundin. Es hatte sie nie gestört, weil sie all die Gefühle, die in einer dicht besiedelten Umgebung auf sie einprasselten, nicht ausblenden konnte. Ihr Vater hatte vergebens versucht, sie darin zu unterrichten. Daher hatte er sich mit ihr immer wieder für mehrere Tage in die unterschiedlichsten Gebiete der USA teleportiert.
Vermutlich hätte sie sich mehr bemühen sollen, es zu erlernen, denn momentan sehnte sie sich danach, das Kloster zu verlassen. Leider hielt sie es normalerweise nicht länger als ein paar Tag in der Zivilisation aus. Empathie sollte eine Gabe sein, kein Fluch. Wieso war sie nicht fähig, sie zu kontrollieren?
Wütend auf sich, ihren Vater und ihre Mutter sprang sie auf und stapfte in die Küche. Ein warmer Kakao mit Sahne war genau das, was sie nun brauchte. Glückshormone.
»Mariella, Schätzchen, guten Morgen!«, begrüßte sie Isabella. Pfeifend durchsuchte sie den Kühlschrank und sah kurz zu ihr auf. Dann widmete sie sich erneut den Lebensmitteln, ehe sie überrascht den Kopf hob und sie anstarrte. »Was ist los, Kleines?«
»Habe ich Geschwister?«, schoss es aus Mariella heraus. Sie wusste selbst erst, was sie sagte, als sie es aus ihrem eigenen Mund hörte.
»Wie bitte?«
»Habe ich eine Schwester?«
»Was soll das? Du weißt doch, dass du ein Einzelkind bist.«
Mariella fühlte wie die Wut, die wie ein hungriges Raubtier in ihr gelauert hatte, aus ihrem Versteck kroch. Warum wurde sie schon wieder belogen? Mit vor Zorn golden funkelnden Augen packte sie ihre Mutter an den Schultern. Erbarmungslos durchfuhr sie ihren Körper mit ihrer Energie. »Du sagst mir jetzt die Wahrheit!« Dabei unterwarf sie Isabellas Willen dem ihren.
»Das tue ich«, entgegnete diese. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Als Mariella ihre Verzweiflung spürte, ließ sie erschrocken von ihr ab. Sie hatte sich wie ein Monster verhalten. Wie konnte sie ihrer Mutter das nur antun?
Wuchtig traf sie Isabellas Handfläche im Gesicht. »Wie kannst du es wagen?! Du manipulierst mich, vergewaltigst meinen Geist. Dass ich nur ein Mensch bin, gibt dir nicht das Recht, mich so zu behandeln!«
Der Schlag ihrer Mutter hatte Mariella nicht geschmerzt, dennoch rieb sie sich die Wange. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter die Hand gegen sie erhoben hatte, und sie hatte es verdient. Nichts rechtfertigte es, einen geliebten Menschen auf diese Weise zu misshandeln. Als Filguri konnte sie andere Wesen mit ihrer Energie unterwerfen, sie zwingen, alles zu tun, was sie wünschte. Deshalb war es aber noch lange nicht in Ordnung. Verzweifelt griff sich Mariella an die Stirn. Was hatte sie getan? Selbst wenn ihre Mutter sie belogen hätte, wäre es kein halb so schlimmes Verbrechen wie das, was sie ihr damit angetan hatte. Entschuldigend fasste Mariella nach ihren Unterarmen.
Blitzschnell wich ihre Mutter zurück und betrachtete sie misstrauisch. »Willst du mir die Erinnerung nehmen?«
Ihre Frage schmerzte Mariella. Sie zeigte ihr, wie sehr sie ihre Mama gepeinigt hatte. Hilflos ließ sie ihre Hände sinken. Ein reißender Schmerz schoss durch ihre Brust. Was sollte sie nun tun? Überfordert teleportierte sie sich in ihr Zimmer und verschloss die Tür. Ihre Mutter würde kommen, um mit ihr zu sprechen. Dem wollte sie sich jetzt nicht stellen.
Sie sank auf ihr Bett, schlang die Arme um ihre angezogenen Beine und wippte verloren vor und zurück. Dann hörte sie auch schon, wie jemand vergebens die Türklinke drückte. Im nächsten Moment erschien ihr Vater direkt vor ihr. »Du weißt doch, dass mich eine versperrte Tür nicht aufhalten kann. Deine Mutter ist zutiefst verletzt. Wie konntest du nur?«
Wortlos hob sie den Brief in die Höhe. »Ich musste wissen, ob sie lügt.«
Als er den hellblauen Umschlag sah, erblasste er, seine Mundwinkel zogen sich nach unten und seine Augenlider flatterten. Die Missbilligung in seinem Gesicht wich Bedauern und Schuldbewusstsein. »Woher hast du den?« Er fuchtelte mit den Armen. »Nein. Ich weiß, woher du ihn hast.« Mit Tränen in den Augen musterte er sie. »Hast du ihn gelesen?«
Sie nickte. »Ist es wahr? Ist Melanie meine leibliche Schwester?«
Er presste die Lippen zusammen und legte die Hände ineinander, als suchte er Halt. »Sie war es.«
»Warum erinnert sich Mama nicht an sie?«
Hektisch bewegten sich seine Schultern. Er senkte den Kopf und begann zu schluchzen. »Ich sah keinen Ausweg. Es genügt, wenn einer von uns für den Rest seines Lebens verzweifelt.«
»Also hast du sie einfach aus ihrem Gedächtnis entfernt?«, fragte Mariella fassungslos. Wütend trat sie einen Schritt auf ihn zu. »Hat sie nicht mehr verdient?«
Sie verschränkte vorwurfsvoll die Arme. »Außerdem habe ich da eine Erkenntnis für dich. Es funktioniert nicht. Sie leidet, aber sie begreift nicht weshalb und zweifelt daher an ihrem Geisteszustand. Wie oft wollte sie ihrer Weinattacken wegen schon psychologische Hilfe in Anspruch nehmen?«
»Dennoch geht es ihr tausend Mal besser als zuvor.«
All die Moralvorstellungen, die er ihr von klein an vermittelt hatte, all die Weisheiten, die er an sie weitergegeben hatte, wie passte das zusammen? »Ich kenne dich überhaupt nicht«, stellte sie angewidert fest. Sie ließ ihn stehen und teleportierte sich nach Kalifornien. Dort ging sie in ein Steakhouse, das sie oft mit ihm besucht hatte, um das Abschotten von Gefühlen zu erlernen. Zum ersten Mal belasteten sie die Emotionen der Anwesenden nicht. Diesmal war sie viel zu sehr mit ihren eigenen beschäftigt. Unbewusst spielte sie mit dem Silberarmband an ihrem Handgelenk, in dem ein grüner Aragonit eingearbeitet war. Es tarnte ihre Energiesignatur und verhinderte, dass ihr Vater oder ein anderer Filguri sie aus der Ferne aufspüren konnte. Normalerweise waren diese in der Lage, jedes Lebewesen, das sie einmal getroffen hatten, anhand ihrer Energie zu finden.
Mariella schaffte es nicht, ihre Gedanken zu ordnen. Geistesabwesend bestellte sie sich ein paar Shots und blickte sich um. In ihrer Nähe turtelte ein Liebespaar. Bei jeder Gelegenheit reichten sie sich die Hände und signalisierten sich durch einen vorsichtigen Druck ihre Zuneigung. An ihrer anderen Seite wütete eine Familie mit fünf Kindern, die wild durcheinanderschrien. ›So etwas wird aus dem Liebespaar dort drüben, wenn sie sich ein wenig zu oft ihre Liebe beweisen.‹ Kopfschüttelnd winkte sie den Kellner zu sich. »Bringen Sie mir bitte die Steakhouseplatte«, bat sie mit einem aufgesetzten Lächeln, das nie ihre Augen erreichte.
An einem Tisch ihr gegenüber unterhielten sich vier magische Wesen und ein Mann, der ihr besonders menschlich erschien. Sie fragte sich, wie er zu dieser Gruppe passte. Immerhin schien er sich in ihrer Gegenwart durchaus wohlzufühlen. Es wirkte, als wüsste er genau, um wen es sich bei seinen Gesprächspartnern handelte. Eifrig gestikulierte er, scherzte und lachte sie sogar aus. Mariella bewunderte seinen Mut. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass die meisten übernatürlichen Wesen kaum Respekt vor Menschen empfänden. Falls das nicht auch gelogen war.
Verbittert zog sie die Augenbrauen zusammen und starrte auf die Tischplatte. Schwarze Ästelungen durchzogen das helle Eichenholz. An einem runden Astloch blieb ihr Blick hängen und sie übersah den Kellner, der ihr ein Getränk servierte. Zu viele Fragen beschäftigten sie. Sollte sie sterben, würde dann ihr Vater die Erinnerung an sie ebenfalls auslöschen? Hätte ihre Schwester es nicht verdient, dass man um sie trauert und ihrer gedenkt?
›Vielleicht ist sie ja eine schlechte Person gewesen und hat Unvorstellbares verbrochen?‹, überlegte Mariella, nur um eine Entschuldigung für ihren Vater zu finden. Dabei sah sie auf und bemerkte, dass sie der Mann, den sie zuvor für seinen Mut bewundert hatte, von Kopf bis Fuß musterte. Ein beunruhigender Schauer lief ihr den Rücken hinab. Schlagartig fühlte sie sich wie ein Schulmädchen, das zum ersten Mal geküsst wurde. Und nein, es wäre nicht ihr erster Kuss, denn trotz ihrer Aversion gegen große Personenansammlungen und trotz des Heimunterrichts war sie kein Unschuldslamm. Meistens hatte sie sich während ihrer kurzen Ausflüge in die Zivilisation einen Mann für etwas Vergnügen gesucht und war mit ihm unauffällig an einen abgeschiedenen Ort verschwunden.
Verlegen zwang sie sich zu einem Lächeln, fasste sich an die Stirn und studierte die Speisekarte, obwohl sie bereits bestellt hatte. Normalerweise reagierte sie nicht schüchtern, aber heute war alles andere als ein normaler Tag. Noch nie war ihr Leben so aus den Fugen geraten wie in den letzten paar Stunden. Wäre es nicht so, hätte sie die Situation genutzt, um ein Abenteuer zu erleben. Doch sie hatte nun wirklich wichtigere Probleme. Wie sollte sie ihrer Mutter jemals wieder unter die Augen treten, ohne ihr die Wahrheit zu verraten? Was, wenn ihre Mutter, sobald sie sich erinnerte, nicht nur ab und zu weinte, sondern völlig daran zerbräche? Als der Kellner ihre Steakhouseplatte servierte, gelang es ihr für einige Augenblicke, ihre trüben Gedanken beiseitezuschieben. Beinahe andächtig schnitt sie sich ein Stück von dem saftigen Fleisch ab. Genussvoll schob sie es sich in den Mund. Der wohlschmeckende Saft rann ihr über die Lippen. Sie fing ihn mit der Zunge ein und genoss den herrlichen Geschmack, der sie die Welt um sich herum für einen Moment vergessen ließ. Hier gab es zweifellos die besten Steaks.
Der Mann von zuvor biss sich verträumt auf die Unterlippe und beobachtete sie. Als Mariella sich dessen bewusst wurde, sah sie ihn fragend an.
Verschmitzt lächelnd zwinkerte er ihr zu, wandte sich ab und nahm das Gespräch mit seinen Freunden wieder auf.
Irritiert schnappte sie ihre Serviette. Hatte sie etwas im Gesicht? Selbst wenn, sie hatte größere Probleme. Vor genau diesen war sie hierher geflüchtet. Trotzdem würde sie sich ihnen stellen müssen. Zuerst aber wollte sie erfahren, was damals tatsächlich vorgefallen war. Wehmütig kaute sie den letzten Bissen. Nun war es so weit. Vielleicht sollte sie sich vorher doch noch ein zwei Shots genehmigen?
Nachdem der Kellner ihr die beiden Drinks gebracht hatte, reichte er ihr eine schwarze Mappe und entfernte sich.
Stimmt! Die Rechnung! Sie griff in ihre Hosentaschen. Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Ihre Kreditkarte?! Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Schreibtisch. War das peinlich! Sie hatte nicht daran gedacht. Zum Glück besaß sie die Fähigkeit, sich zu teleportieren. Wie schrecklich musste sich diese Situation für andere anfühlen?
»Heute ist nicht dein Tag. Habe ich recht?«
Verwirrt blickte sie auf und sah den Mann, der zuvor mit ihr geflirtet hatte. Flink drehte dieser einen Stuhl herum, schwang sich darauf und stützte seine Unterarme auf die Lehne.
»Wieso?«, entgegnete Mariella irritiert und versank in seinen wunderschönen blauen Augen, in deren Iriden sich ein sanfter gelblicher Strich um die Pupillen zog.
»Du siehst aus wie jemand, der kein Geld bei sich hat.« Grinsend nahm er die Mappe an sich, legte seine Kreditkarte hinein und übergab sie dem Kellner, der wie gerufen in diesem Moment bei ihnen am Tisch erschien. Dabei sah er ihn nicht einmal an, sondern reichte sie ihm schlicht über die Schulter hinweg.
Wie hatte er das gemacht? Hatte er zuvor eine Absprache mit ihm getroffen?
»Danke!«, stammelte sie.
Lächelnd wuschelte er ihr durchs Haar. »Gern geschehen.« Dann erhob er sich und ging zu seinen Freunden, die bereits am Ausgang auf ihn warteten.
Normalerweise hätte sie ihn zurechtgewiesen, ihn gefragt, was er sich einbildete, ihr wie einem kleinen Kind das Haar zu zerzausen. Aber sein Auftreten hatte sie so fasziniert und zugleich überfordert, dass sie ihm einfach nur schweigend hinterherstarrte. Außerdem hatte sie seine spielerische Geste genossen und das war noch viel schlimmer. Als sie aus ihrer Starre erwachte, folgte sie der Gruppe nach draußen, um wenigstens seinen Namen zu erfahren. Doch die Herren waren verschwunden. Mariella war zu langsam gewesen. Konnte dieser Tag noch abstruser werden?
Vielleicht war es auch besser so. Ihr Herz war heute schon gebrochen worden und dieser Mann wirkte, als könnte es ihr mit ihm abermals widerfahren. Dabei hoffte sie, es durch Wahrheit zu heilen.
Ein letztes Mal suchte sie mit ihrem Blick den Parkplatz nach den Männern ab, ehe sie in einer dunklen Ecke verschwand und sich direkt in das Büro ihres Vaters teleportierte.
Dieser hatte scheinbar mit ihr gerechnet. »Komm, setz dich!«, forderte er sie mit einer einladenden Handbewegung auf. »Ich denke, ich schulde dir einige Erklärungen.«
Stur blieb sie stehen. »Oder du manipulierst mein Gedächtnis. Regelst du unangenehme Angelegenheiten normalerweise nicht auf diese Weise?«
Er sah sie geduldig, mit väterlich liebevollen Augen, an. »Das habe ich verdient.«
Dann erzählte er ihr von ihrer Schwester Melanie, die ein Opfer ihrer Abstammung geworden war. Da sie vor Mariella der erste und damit einzige offiziell bekannte Mischling gewesen war, sei sie für die magische Welt von unbeschreiblichem Wert gewesen. Laut ihm war Mariellas Macht mit der Melanies nicht vergleichbar. Melanie hatte er in frühester Kindheit mithilfe eines komplizierten Zaubers, den man filgurische Sybielle nennt, die Kräfte genommen, weil sie bereits damals mächtiger gewesen war als Mariella heute. Er hatte sie kaum noch kontrollieren können. Melanie wuchs in dem Glauben heran, ein gewöhnliches Menschenmädchen zu sein, und erinnerte sich nicht einmal mehr an die Existenz der übernatürlichen Welt. Geschweige denn an ihre verlorenen Kräfte. Bis sie eines Tages Michael traf, mit dem sie eine außergewöhnliche Verbindung teilte. Durch ihn wurde sie in die übernatürliche Welt zurückgezogen. Mit der Zeit erkannten immer mehr magische Kreaturen Melanies Einzigartigkeit. Die Lustrare, eine radikale Gruppierung von übernatürlichen Wesen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die zu mächtigen Arten der alten Magie auszulöschen, wünschten sich ihren Tod. Für sie handelte es sich dabei um eine Glaubensfrage. Drachen und Filguri begehrten etwas völlig anderes. Sie wollten sie um jeden Preis besitzen. Anfangs belog Melanie ihren Vater und verschwieg ihm, dass sie von der magischen Welt und ihren Wurzeln darin erfahren hatte, um ihre Eltern zu schützen. Als er dessen gewahr wurde, war die Situation schon viel zu verworren, um sie einfach zu sich zu holen. Ihre Mutter war mit Mariella schwanger, und er wollte sie keiner Gefahr aussetzen. Zu dem Zeitpunkt fungierte bereits eines der mächtigsten Wesen aus dem Verborgenen als ihr Bodyguard. Mit ihm als Beschützer könne seiner Großen nichts geschehen, glaubte er. Er hatte nicht geahnt, dass selbst er nicht in der Lage war, für ihre Sicherheit zu sorgen.
Ja! Ihre Schwester Melanie hatte nichts Unvorstellbares verbrochen. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, zu existieren. Sie war all jenen Umständen zum Opfer gefallen, vor denen sie ihr Vater ihr ganzes bisheriges Leben gewarnt hatte. Zum ersten Mal begriff Mariella, warum sie niemandem verraten durfte, wer sie war. Nicht einmal der magischen Gemeinschaft.
Nachdem er ihr die vollständige Geschichte erzählt hatte, verstand sie seine Vorsicht. Nur eines leuchtete ihr nicht ein. Wenn ihre Schwester dermaßen mächtig gewesen war, wieso war sie mit ihrem Mann nicht verschwunden? Sie hätten sich doch nur wegteleportieren müssen. Soweit sie erfahren hatte, hätte dem nichts im Weg gestanden. Also weshalb sich auf einen Kampf einlassen, anstatt zu flüchten?
»Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen«, beteuerte ihr Vater mehrmals. »Weißt du, was mich am meisten quält? Sie ist vermutlich in dem Glauben gestorben, ich hätte mich gegen sie entschieden. Deine Mutter zerbrach fast daran. Wochenlang weigerte sie sich, aufzustehen. Selbst du warst nicht in der Lage, sie aus dem Bett zu bewegen. Mich wollte sie nie wiedersehen. Sie gab mir die Schuld. Ich hatte ihr versprochen, Melanie würde nichts zustoßen. Sie hatte ihren Lebenswillen verloren. Ja! Hin und wieder weint deine Mutter, ohne zu verstehen, warum. Dennoch ist es besser als die Alternative. Ich komme den Großteil der Zeit damit zurecht. Trage Melanie gut verborgen in meinem Herzen. Aber jedes Jahr an meinem Geburtstag steigt in mir die Erinnerung hoch, wie ich den Brief in unserem alten Haus gefunden und gelesen habe. Wie ich wie von Sinnen nach ihr gesucht und die Stelle gefunden habe, an der sie und mein Freund von den Lavafluten verschluckt wurden.«
Schluchzend versuchte er, sich die Tränen von den Wangen zu wischen.
»Du hast den Brief an deinem Geburtstag entdeckt?«, hakte Mariella nach.
Er nickte. »Ich habe einfach schon zu viele meiner Lieben sterben sehen. Meine Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde und deine Schwester. Pass auf dich auf, meine Kleine! Einen weiteren Verlust werde ich nicht mehr ertragen.«
Mariella erstarrte. Mit einem Schlag wurde ihr die volle Bedeutung seiner Worte bewusst. Er hatte ›werde‹, nicht ›würde‹ gesagt. Er hatte nicht vor, einen weiteren Verlust zu erdulden. Mit dem Tod ihrer Mutter würde auch er sein Ende finden.
Mariella hatte sich hin und wieder mit Isabellas Sterblichkeit beschäftigt und sich davor gefürchtet. Sie hatte sich jedoch immer mit dem Gedanken getröstet, wenigstens ihren Vater nie zu verlieren. Nun wusste sie es besser. Noch schlimmer war das Gefühl, ihr Vater hätte ihre Schwester ihretwegen im Stich gelassen. Es war ihre Schuld! Melanie musste sterben, um ihr ein unbeschwertes Dasein zu ermöglichen. Vieles ergab für sie trotzdem nach wie vor keinen Sinn. »Wieso haben die Lustrare bei dem Kampf, bei dem Melanie ums Leben gekommen ist, mit den afrikanischen Drachen kollaboriert? Immerhin sind die Drachen der Inbegriff dessen, was die Lustrare hassen.«
Ihr Vater zuckte ahnungslos mit den Schultern, also fragte sie weiter: »Weshalb erlaubten die Drachen, dass man meine Schwester tötete, obwohl sie doch ganz andere Pläne mit ihr hatten?« Auf all diese Fragen kannte ihr Vater keine Antworten. Denn nachdem er die Gewissheit gehabt hatte, dass ihre Schwester tot war, war er umgehend zu seiner Familie zurückgekehrt, um diese zu beschützten. Er erklärte es ihr folgendermaßen: »Ich durfte nicht zulassen, dass ihr Opfer umsonst war. Hätte ich länger nachgeforscht, hätte man mich womöglich entdeckt. Dann wärst du ebenfalls nicht mehr sicher gewesen.«
Und wieder war es ihre Schuld! Wie sollte sie sich damit abfinden? Ihre Schwester, von der sie bis vor vierundzwanzig Stunden nichts gewusst hatte, war tot. Sie musste wenigstens wissen, was genau passiert war. Sie würde all die Geheimnisse lüften, die ihr Vater ihr zuliebe ungelöst ließ. Mit etwas Glück würde sie auf diese Weise ihre Schwester auch ein wenig kennenlernen. Sie wollte mit Leuten sprechen, die mit ihr zu tun gehabt hatten und erfahren, was sie gerne getan, was sie geliebt und was sie verabscheut hatte. Was ihre Stärken und Schwächen gewesen waren, und wen sie vergöttert hatte. Vielleicht fände sie sogar Informationen, die ihren Vater von seinem Vorhaben, Isabella nicht zu überleben, abbringen könnten.
»Mariella, ich weiß, das muss ein Schock für dich sein.«
»Was du nicht sagst?!«
Vorsichtig schritt er auf sie zu. Abwehrend hob sie die Hände. »Nicht! Ich brauche Zeit, um das zu verarbeiten.«
Sie wollte gerade gehen, als die Tür zum Büro aufsprang und ihre Mutter eintrat. »Hast du unsere Tochter geseh... Da ist sie ja.« Beleidigt musterte sie Mariella. »Du schuldest mir eine Erklärung!«
Irritiert starrte Mariella durch sie hindurch. Wovon sprach sie? Es wollte ihr einfach nicht einfallen. Doch dann erinnerte sie sich: Der Vorfall in der Küche. »Entschuldige bitte, dass ich dich mit meiner Energie beeinflusst habe.«
Überlegend runzelte ihre Mutter die Stirn. »Mach das nie wieder und ich vergesse, was geschehen ist.«
»Einverstanden«, entgegnete Mariella. »Vielen Dank!«, fiel sie ihrer Mutter um den Hals. Sie empfand unendliches Mitleid für sie. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wusste nicht, was sie schrecklicher fand: ein Kind zu verlieren und sich daran zu erinnern, oder zu vergessen, dass es jemals existiert hatte und es dennoch zu vermissen. Den Verlust und den Schmerz zu spüren, aber, wie hinter einem Nebel verborgen, niemals erfassen zu können, was fehlte. Vielleicht würde sie ihrer Mutter eines Tages verraten, weshalb sie manchmal von Traurigkeit zerfressen wurde. Momentan fühlte sie sich überfordert und keinesfalls fähig, diese Entscheidung zu treffen.
»Entschuldigst du mich, Mama? Ich bin sehr müde«, log Mariella, weil sie ihre Nähe kaum ertrug und allein sein wollte.
Ihre Mutter nahm ihr Gesicht zwischen ihre Hände und wischte ihr mit den Daumen die Tränen von den Wangen. »Ich verzeihe dir doch, meine Süße.«
»Danke«, flüsterte Mariella und teleportierte sich in ihr Zimmer.
Mit verschränkten Armen und Beinen setzte sie sich aufs Bett. Die Welt erschien ihr plötzlich übermächtig, als wäre sie ein Insekt, eingeschlossen in ein Honigglas ohne Luftlöcher, völlig macht- und hoffnungslos. Ihre Eltern litten schon seit zwanzig Jahren. Jetzt, da sie endlich den Grund für deren immer wiederkehrendes Leid kannte, gab es nichts, was sie daran ändern könnte.
Ihrer Mutter ihre Erinnerungen zurückzugeben würde womöglich alles verschlimmern. Am liebsten hätte sie ihr Zuhause sofort verlassen. Aber ließe sie damit ihre Eltern nicht im Stich? Stundenlang lag sie auf dem weichen, nach Mandeln duftenden Laken. Je länger sie überlegte, umso mehr kristallisierte sich eine Erkenntnis heraus. Bliebe sie, um ihren Eltern durch ihre Anwesenheit beizustehen, würde sich nie etwas verändern. Ob es einen Unterschied machte, die genauen Umstände des Todes ihrer Schwester aufzuklären, wusste sie nicht. Sie hoffte jedoch, dass ihr ein besseres Verständnis dafür, was damals geschehen war, den nötigen Einblick verschaffen würde, um die seelischen Qualen ihrer Eltern zu lindern. Ja, sie war wütend auf ihren Vater, weil sie seine Entscheidung, ihre Schwester aus dem Gedächtnis ihrer Mutter zu löschen, ablehnte. Doch sie musste einen Weg finden, ihm neuen Mut zu geben, sonst würde sie in absehbarer Zeit auch ihn verlieren.
Wie sollte sie sich also auf die Suche nach Antworten machen? Ginge sie zu den Drachen, um sich nach Melanie zu erkundigen, würden diese sehr wahrscheinlich ihr Interesse hinterfragen. Als Mensch konnte sie sich nicht ausgeben. Einem Menschen würden die übernatürlichen Wesen Informationen verweigern. Als Achteldrachin flöge sie sofort auf. Immerhin verfolgten die Drachen ihre Nachfahren über Generationen. Die Tatsache, ihre Vorfahren nicht zuordnen zu können, würde sie verraten. Das war ihr, nachdem was ihr Vater erzählt hatte, klar.
Frustriert starrte sie die Zimmerdecke an und überlegte. Schließlich entschied sie, sich einfach trotzdem auf die Suche zu begeben und den Rest auf sich zukommen zu lassen. Laut ihrem Vater ließe sich das Leben sowieso nicht kontrollieren. Nun hieß es, zu entscheiden, wo sie beginnen sollte. Verano hatte ihr gesagt, dass die europäischen und amerikanischen Drachen auf der Seite von Melanie und ihrem Freund gestanden hatten. Er würde wissen, wo sie sie finden könnte, aber ihn konnte sie schlecht fragen. Oder doch? Er musste ja nicht erfahren, weshalb sie sich dafür interessierte.
Wenige Stunden später stand sie gemeinsam mit ihm auf der Terrasse des Klosters. »Ich möchte deinem Vorschlag folgen und in die Welt hinausgehen. Ich muss lernen, trotz meiner Empathie unter anderen zu leben. Also werde ich in Europa studieren. Gibst du mir ein paar Tipps, welche Orte und Städte ich besser meide, um den Drachen auszuweichen?«
Ihr Vater musterte sie. »Willst du wirklich lernen, mit deiner Empathie umzugehen, oder flüchtest du aus Enttäuschung vor mir?«
Mariella zuckte mit den Achseln. Womöglich brauchte sie ein bisschen Abstand. In erster Linie folgte sie ihrem Wunsch, die Ereignisse, die zu dem Tod ihrer Schwester geführt hatten, zu untersuchen und sie im Zuge dessen kennenzulernen.
Verano zwinkerte traurig. »Ich habe dir beigebracht, wie du deine Kräfte verbirgst. Hältst du dich daran, brauchst du ihnen nicht aus dem Weg zu gehen. Um das Risiko, Drachen zu begegnen, zu minimieren, solltest du dich vielleicht von London und den schottischen Highlands fernhalten. Auf keinen Fall aber solltest du die University of London besuchen. Dort lehrt Kadeijosch seit Jahrzehnten.«
»Danke, das werde ich befolgen«, flunkerte Mariella. ›Auf zu Kadeijosch!‹, war, was sie sich dachte.
Sie wollte in ihr Zimmer zurückkehren, als ihr Vater sie aufhielt. »Was willst du denn eigentlich studieren?«
»Das muss ich erst herausfinden«, entgegnete sie keck und ließ ihn alleine zurück.

Die Suche

Müde öffnete Mariella die Augenlider. Ihre Zimmernachbarin Teresa sandte erneut schonungslos ihre Unsicherheiten aus. Laut schnarchend wälzte sie sich in ihrem Bett und quälte Mariella mit ihren Emotionen. Schon oft stand Mariella kurz davor, aufzuspringen, um ihr lautstark diese Rücksichtslosigkeit an den Kopf zu werfen. Zum Glück gelang es ihr jedes Mal, sich zu stoppen. Was würde ihre Zimmerkollegin von ihr denken, wenn sie sie aufforderte, ihre Gefühle bei sich zu behalten? Vermutlich bekäme sie sehr schnell eine neue Mitbewohnerin. Möglicherweise wäre das sogar von Vorteil. Es könnte eine völlig ausgeglichene, mit sich zufriedene Person sein. Schmunzelnd machte sie sich über sich lustig. ›Genau, als ob das besser wäre. Eine zufriedene Person, die sich selbst verherrlicht und ständig nur Selbstbewunderung verbreitet.‹
Vor einem Monat hätte sie das Leben in London noch nicht ertragen. Die Anwesenheit so vieler Menschen, die ihre Empfindungen nicht im Griff haben, hätte sie in die Knie gezwungen. Doch in jener Nacht, in der sie von ihrer Schwester Melanie erfahren hatte, war etwas mit ihr geschehen. Sie konnte es nicht benennen. Vielleicht lag es daran, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben selbst Probleme und dadurch derart drastische Gefühle durchlebt hatte. Sie fühlte sich für Melanies Tod mitverantwortlich. Wäre ihre Mutter nie mit ihr schwanger geworden, wären ihre Schwester und ihr Geliebter höchstwahrscheinlich nie gestorben. Melanie hätte ihren Eltern Enkelkinder geschenkt. Niemand hätte Mariella je vermisst. Die Vorstellung, nie existiert zu haben, stimmte sie zwar traurig, für ihre Familie wäre es jedoch das Beste gewesen.
Teresa jammerte im Schlaf. Mariella blendete die erneute Emotionswelle aus, indem sie darüber nachdachte, wie ihre Schwester wohl gewesen sein mochte. Sie besaß nicht einmal ein Foto von ihr. Laut ihrem Vater war Melanie eine typische Filguri. Beinahe alle Filguri hatten blonde Haare und blaue Augen. Anders Mariella, die das dunkelbraune Haar ihrer Mutter und die honigbraunen Augen ihrer Großmutter geerbt hatte. Zumindest behaupteten das ihre Eltern. Mariella wusste von ihren frühesten Kindheitsfotos, dass sie nicht immer so ausgesehen hatte. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Augenfarbe eines Babys bis zum ersten Lebensjahr noch völlig verändern kann. Bei Mariella war das so, allerdings ungewöhnlich spät. Womöglich galten die menschlichen Statistiken für ein übernatürliches Wesen nicht. Denn sie war als rothaariges Mädchen mit strahlend blauen Augen zur Welt gekommen. Vielleicht hatte ihre Schwester ähnlich ausgesehen wie sie auf ihren Babyfotos. Einzig, dass sich Melanies Äußeres nicht komplett verändert hatte. Ihr Vater hatte es leider nicht geschafft, sie näher zu beschreiben.
Ihre Schwester hatte ihre Schwierigkeiten ihrem Vater gegenüber verheimlicht, bis sie erfuhr, dass sie ein Baby erwartete. Daher vermutete Mariella, dass sie sehr selbstlos gewesen sein musste. Aber wie konnte sie von der Schwangerschaft nichts geahnt haben? Mariella war überzeugt, dass eine Frau von der ersten Sekunde an fühlt, dass sie schwanger ist, es sei denn, sie belöge sich selbst.
Um endlich Antworten auf all ihre Fragen zu erhalten, hatte sie sich an der University of London als Studentin eingeschrieben. Mittlerweile hatte sie dreißig verschiedene Vorlesungen und Seminare auf der Suche nach Kadeijosch, dem Drachen, von dem ihr Vater gesprochen hatte, besucht. Doch bisher war das Aufregendste, das sie gesehen hatte, eine Professorin namens Vandasei mit fünf ockergelben Schuppen auf der Stirn. Menschen, die zu einem geringen Teil, zum Beispiel zu einem Achtel oder Sechzehntel, Drachen sind, tragen oft vereinzelte Schuppen als Zeichen ihrer Abstammung. Diese sind für gewöhnlich nur sichtbar, wenn die Betroffenen eine Verwandlung auslösen. Mariella war aufgrund ihrer einmaligen Herkunft gegen die meiste Magie immun. Übernatürliche Wesen sah sie normalerweise in ihrer ursprünglichen Form, bis sie sich anders entschied. So sah sie Werwölfe, während sie in ihrer Wolfsform waren, als nackte Männer, bis sie sich dazu entschloss, sie als Wölfe wahrzunehmen. Mit den Drachen, die sich in Menschen verwandeln konnten, verhielt es sich scheinbar gleich. Diese dürfte sie zuerst als Drachen sehen. Aus diesem Grund nahm Mariella an, dass es sich bei ihrer Professorin um eine Frau mit Drachenanteil handelte, vermutlich um eine Achteldrachin. Nachdem zu Zeiten der Kriege zwischen Filguri und Drachen der Fluch ausgelöst worden war und alle Drachinnen und Filgurifrauen gestorben waren, pflanzten sich die männlichen Drachen mit Menschenfrauen fort. Seither wurde keine Frau geboren, die mehr als eine Achteldrachin war.
Mariella seufzte. Sie konnte es kaum erwarten, endlich einen ausgewachsenen Drachen zu finden. Ob sie so majestätisch aussahen, wie sie sie sich vorstellte? Bis es so weit war, würde sie sich an ihre einzige Fährte heften und an jeder Vorlesung von Professorin Vandasei teilnehmen. Mit diesem Vorsatz eilte sie wenig später durch die langen Flure der Universität. In Kürze würde ihre Vorlesung beginnen. Sie überlegte, ob sie nach der Uni der Drachin heimlich folgen sollte, als sie plötzlich jemand am Oberarm abfing. »Wieso läufst du ständig vor mir weg?«
Irritiert blickte sie in das blasse Gesicht des brünetten Studenten. Was wollte dieser Kerl eigentlich? Seit sie hier war, zeigte er ein unerklärliches Interesse an ihr. »Wie viele Vorlesungen besuchst du mittlerweile? Dir ist aber schon klar, dass der Zweck nicht darin besteht, bei jeder angebotenen Lehrveranstaltung anwesend zu sein, sondern ein paar auszuwählen und diese dann tatsächlich zu absolvieren?«
»Wie soll ich sonst herausfinden, welche meine Zeit verdienen?«
»Logisch«, entgegnete er schmunzelnd. »Handhabst du das mit Bars ebenso, oder gibt es eine, in die du öfter gehst?«
Mariella hatte im selben Moment Frau Professorin Vandasei entdeckt und seine Frage überhört. »Das freut mich für dich, ich muss jetzt los«, erklärte sie hektisch und eilte ihr hinterher.
»Ich liebe es, mit dir zu sprechen. Es ist jedes Mal so erfrischend, völlig ignoriert zu werden«, scherzte er.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«, fragte Mariella, die sich umdrehte, weil sie wieder auf ihn aufmerksam geworden war.
Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Es war wie immer ein Vergnügen, mit dir zu reden«, antwortete er frech und bog in den nächsten Seitengang.
Was hatte er nur? Fragend blickte ihm Mariella nach, bevor sie weiterlief.
Im Vorlesungssaal setzte sie sich in die vorderste Reihe und langweilte sich, während Professorin Vandasei von uneigentlichen Integralen und Abschätzungen schwafelte. Dreimal drohte Mariella einzuschlafen, ehe die Professorin ihre Unterlagen zuschlug und den Saal mit ein paar Worten des Abschieds verließ.
Mariella verfolgte sie bis zu ihrem Büro. Dort wartete ihre brünette Bekanntschaft von vorhin.
»Hallo, Oscar! Hast du das Problem inzwischen gelöst?«, erkundigte sich Vandasei.
»Ich befürchte, ich brauche noch ein bisschen Hilfe.«
Einladend wies die Professorin in Richtung Tür. »Na dann, komm herein! Wie geht es eigentlich deiner Mutter? Sag Igneria, sie soll sich wieder mal blicken lassen.«
Mariella hatte dem jungen Mann, der bei jeder Gelegenheit bemüht war, sie in ein Gespräch zu verwickeln, bisher nie viel Beachtung geschenkt. Zum ersten Mal betrachtete sie ihn neugierig. Als er sich die Haare aus dem Gesicht schüttelte, entdeckte sie ein geheimnisvolles Funkeln unter seinen Stirnfransen. Handelte es sich um eine verborgene Schuppe?
Unerwartet wandte sich Professorin Vandasei ihr zu. »Willst du etwas von mir?«
Erschrocken verneinte Mariella. In ihrer Verblüffung hatte sie die beiden unverblümt angestarrt.
»Nein, sie ist nur verrückt nach mir. Ehrlich! Sie läuft mir ständig hinterher, aber ich ignoriere sie und hoffe, dass sie irgendwann aufgibt«, beteuerte Oscar.
»Das ist nicht wahr!«, empörte sich Mariella, als Oscar bereits im Büro verschwand.
Professorin Vandasei sah Mariella einen Augenblick interessiert an, dann folgte sie dem Studenten und schloss die Tür hinter sich.
Dieser Grünschnabel hatte ihr Vorhaben enorm erschwert. Dank ihm würde Vandasei ihr Gesicht niemals vergessen. Wie sollte sie der Professorin später unbemerkt quer durch die Stadt folgen? Nun war sie gezwungen Magie anzuwenden. Wodurch alles viel gefährlicher wurde. Immerhin verstieß sie damit gegen eine der Hauptregeln ihres Vaters: Keine Magie in der Öffentlichkeit!
Missmutig entfernte sie sich von dem Büro. Sie musste die Abgeschiedenheit ihres Zimmers nutzen, um den Zauber auszuführen. Das Risiko, dabei auch noch beobachtet zu werden, wollte sie nicht eingehen. Gehetzt schlängelte sie sich an den herumstehenden Studenten vorbei. Sie hasste es, die belebten Flure der Universität zu durchqueren.
Langsam verflog ihr Ärger auf Oscar. Eigentlich hatte sie sich ihm gegenüber schrecklich benommen. Er hatte sich nicht immer so penetrant verhalten. Anfangs hatte er nett mit ihr geredet. Erst als sie ihn ständig ignorierte, wurde er frech und unverschämt. Wieso empfand sie ihn überhaupt als störend? Er hatte eindeutig Drachen unter seinen Vorfahren. Über ihn wäre es leichter, Zugang zu deren Welt zu finden, als über ihre Professorin. Wie vom Blitz gestreift kehrte sie um. Wie konnte sie nur so ignorant sein! Neue Hoffnung durchflutete ihren Körper und veranlasste sie zu rennen. Euphorisch stürmte sie um die nächste Ecke und donnerte mit voller Wucht gegen eine Gestalt. Ein dumpfer Schmerz schoss durch ihre Glieder und trieb ihr Tränen in die Augen. Hatte sie eine Skulptur übersehen?
»Au!«, beschwerte sie sich lautstark, ehe sie aufblickte und den Fremden aus dem Steakhouse anstarrte. Der blonde Mann in seiner zerfetzten Jeans wäre tatsächlich eine Sünde wert. Damals war ihr entgangen, wie groß er war. Sie fühlte sich wie ein ungeschickter Zwerg. Das verwegene Lächeln, das sich über sein Gesicht schlich, trug dazu bei, dass sie sich noch unbeholfener vorkam. Ein merkwürdiges Kribbeln durchzog sie und erschwerte ihr das Atmen. Wie verzaubert streckte sie ihre Finger aus und legte sie auf seine Brust. Der Kerl besaß Muskeln aus Stahl. Sie spürte jeden einzelnen durch den dünnen Stoff seines orangefarbenen T-Shirts. Fasziniert biss sie sich auf die Unterlippe. Er wirkte völlig anders als die Männer, die sie kannte. Langsam strich sie abwärts bis zu seinem Bauch. Dabei schien ihre Handfläche unter Strom zu stehen.
Ein lautes, amüsiertes Lachen riss sie aus ihrer Faszination. »Also, wenn du fortfahren möchtest, bestehe ich darauf, dich ebenfalls zu berühren.«
Erschrocken weiteten sich ihre Augen. Seine tiefblauen Iriden funkelten wohlwollend.
Erneut glaubte sie, nach Luft zu ringen. Wie peinlich! Wie konnte sie sich so vergessen? »Entschuldige«, stammelte sie. Ihre Stimme war nur ein Hauch. Das letzte bisschen Atem, das ihr zur Verfügung stand.
Freundlich zwinkerte er ihr zu. »Kein Problem, diese Wirkung habe ich nun mal auf das weibliche Geschlecht, mein Kleines.« Dann wuschelte er ihr wie einem unanständigen Kind durchs Haar und holte Mariella endgültig in die Realität zurück. Schlagartig vereinnahmte sie eine unbeschreibbare Wut auf sich selbst und auf ihn. Was bildete sich dieser Kerl ein, sie wie ein unreifes Mädchen zu behandeln? Sah er nicht, dass sie eine erwachsene Frau war? Und wieso gefiel es ihr?
Entrüstet stemmte sie die Fäuste in die Hüften. »Ich bin definitiv nicht dein Kleines! Du hast ja keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, mein Junge!« Zufrieden beobachtete sie, wie diesmal er irritiert vor sich hinstarrte.
»Mein Junge?!«, wiederholte er mindestens ebenso empört. »Du kleine Rotznase!«
»Hör auf, mich als klein zu bezeichnen«, fauchte Mariella hysterisch.
Provokant blickte er auf sie hinab und hob selbstgefällig die Augenbrauen. »Ich denke, dem muss ich nichts hinzufügen.«
Mariella, die ihm tatsächlich nur bis zur Brust reichte, knirschte wütend mit den Zähnen. Wie gerne würde sie ihn verzaubern oder ihm seinen freien Willen entziehen, aber sie wusste, wie unfair es wäre, ihre fehlende Schlagfertigkeit mit Magie aufzuwiegen.
»Soll ich dir einen Stuhl besorgen? Vielleicht gewinnt dieser zornige Blick an Wirkung, wenn du mir auf Augenhöhe begegnest?«, fragte der Mann, der mittlerweile erneut viel zu amüsiert klang.
Das war zu viel! Was glaubte er, wer er war? Dass er es wagte, sich über ihren Ärger auch noch lustig zu machen, war einfach ... Damit ging er zu weit. Frustriert stieß sie ihn mit beiden Händen gegen die Brust, wandte ihm den Rücken zu und stapfte mit lauten Schritten davon. Sie musste weg von diesem Kerl, ehe sie die Beherrschung verlieren und ihn mit ihren telekinetischen Fähigkeiten quer durch die Universität schleudern würde.
Immer noch außer sich ließ sie sich auf einen der Sessel in der Nähe von Vandaseis Büro nieder. Adrenalin wühlte durch ihren Körper und zwang sie beinahe aufzuspringen, um dem eingebildeten Kerl gewaltig die Meinung zu geigen. Hätte sie gewusst, was sie ihm sagen sollte, hätte sie es getan. Aber eigentlich war sie es, die sich absolut unangebracht und kindisch benommen hatte. Er hielt sie garantiert für eine hysterische Zicke.
Wieso kümmerte sie überhaupt, was er dachte? Das war ja nicht zu ertragen! Was war nur in sie gefahren? Normalerweise reagierte sie nicht so übertrieben. In Wahrheit hatte er sich den Umständen entsprechend ja sehr fair und entgegenkommend verhalten. Immerhin hatte sie ihn begrapscht und anschließend ungerechtfertigt angefaucht. Lange grübelte sie, dann dämmerte ihr der Grund. Er übte eine so große Faszination auf sie aus, dass sie aufhörte zu denken. Seine bloße Anwesenheit entriss ihr völlig die Kontrolle. Sie hatte instinktiv gehandelt, als sie ihn berührt und bewundert hatte. Schon oft hatte sie die Initiative ergriffen. Einen Mann an sich gerissen, geküsst und um den Verstand gebracht. Jedoch hatte sie dabei jedes Mal die Situation hundertprozentig kontrolliert und jede ihrer Handlungen gewollt ausgeführt. Diesmal konnte sie das nicht behaupten. Trotzdem hatte es sich unglaublich gut angefühlt. Sie rieb den Daumen über ihre Fingerkuppen und stellte sich vor, wie es wäre, seine nackte Haut zu berühren.
Seufzend ließ sie die Hände sinken. Er musste sie für ein richtiges Miststück halten. Erst rettete er sie in diesem Streakhouse, weil sie ihr Geld vergessen hatte, und später schnauzte sie ihn an, als wäre er ihr Erzfeind. Verflixt, sie würde sich entschuldigen müssen. Das hieß, falls sie ihn jemals wieder zu Gesicht bekäme. Hoffentlich schaffte sie das, ohne ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Womöglich war es doch das Beste, wenn sie ihm nie mehr begegnete.