Leseprobe

Auch wenn du mich vergisst

Liebesroman


1.  Evelin: Zeitmangel


›Da musst du jetzt durch! Du vertröstest sie seit Jahren. So schlimm wird es schon nicht werden‹, ermahnte sich Daniela Evelin Herzog immer wieder. Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, dass sie ein Wochenende ohne ihre Kinder verbrachte. Ihre Schwiegermutter Karoline hatte ihr nahegelegt, sich zu amüsieren und das Geschehene endlich hinter sich zu lassen: ›Lebe nicht in der Vergangenheit!‹ Allein dieser Satz hatte Evelin zutiefst verletzt. Zu hören, wie jemand die Liebe ihres Lebens als Vergangenheit bezeichnete, hatte die Wunde in ihrem Herzen erneut zum Bluten gebracht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je verheilen würde. Es war mehr als nur ein kleiner Riss. Es fehlte ein ganzes Stück ihres Herzens. In jener schicksalshaften Nacht war es ihr aus der Brust gerissen worden.
Die halbe Fahrt hierher hatte sie die Straßenmarkierungen nur verschwommen gesehen, weil sie nicht aufhören konnte zu weinen. Sie hatte beschlossen, den Rat ihrer Schwiegermutter anzunehmen und Spaß zu haben. Obwohl sie nicht wusste, ob sie Kathi überhaupt besuchen wollte. Ihre Halbschwester gab ihr noch immer für diesen Vorfall vor über zehn Jahren die Schuld. Auch wenn sie stets beteuerte, dass sie ihr verziehen habe, stand er seither zwischen ihnen. Denn Evelin hatte es selbst nie geschafft, Kathi ihr damaliges Verhalten zu verzeihen. Aber immerhin gehörte sie zu dem Wenigen, was ihr von ihrer eignen Familie und Kindheit geblieben war.
Evelin zog sich den Gummiring aus den ungewaschenen Haaren, kämmte sie notdürftig mit den Fingern und band sie wieder zusammen. Sie hoffte, dass Kathi nicht sofort sehen würde, wie ungepflegt sie waren. Eigentlich hatte sie geplant, sich vor der Abfahrt zu duschen, doch als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern war Zeit oft Mangelware.
Widerwillig stellte sie ihren Koffer im fünften Stock des Luxus-Wohnhauses ab und hob die Hand, um an die kupferfarbene Wohnungstür zu klopfen. Noch bevor sie das lackierte Holz berührte, schwang die Tür auf und ihre Schwester Kathi Meinigen fiel ihr um den Hals. »Wie schön! Endlich bist du da!«
Auf Gregors Beerdigung hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Langsam schlichen sich Tränen in Evelins Augen. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr sie ihre Halbschwester vermisst hatte und wie gut es sich anfühlen würde, von ihr umarmt zu werden. Kathi trat einen Schritt zurück, wodurch sie Evelin die Möglichkeit gab, sie zu betrachten.
»Wow, du siehst umwerfend aus!«, schwärmte Evelin und fragte sich, weshalb Kathi sich ihretwegen so hübsch gemacht hatte. Sie trug ein gelbes Cocktailkleid, das ihrem dunklen Teint schmeichelte. Ihre Augenlider hatte sie magmarot schattiert und ihre prallen Lippen schimmerten rosa. Mit weichen Augen sah sie Evelin an und bat sie, einzutreten. Ein Butler nahm ihren Koffer und brachte ihn in eines der Gästezimmer.
Evelin ging an ihrer Schwester vorbei in den geräumigen Flur, von dem aus sie bis ins Wohnzimmer sehen konnte. Auf einer edlen weinroten Ledergarnitur saßen mehrere Personen an einem mahagonifarbenen Tisch, auf dem kunstvoll verzierte Cocktails standen. Damit, dass ihre Schwester Gäste haben würde, hatte sie nicht gerechnet. Verunsichert legte sie die Hand auf den Bauch, weil es ihr den Magen zusammenzog. Sie sah an sich hinunter. Ihre schwarze Hose war viel zu weit, ihr weißes T-Shirt verwaschen und ihre blaue Kapuzenjacke hing wie ein Sack an ihr. Außerdem war sie völlig ungeschminkt. Kathis Freunde hingegen waren gekleidet, als planten sie, an einem Galadiner teilzunehmen. Ehe sie diesen Raum betreten wollte, musste sie sich duschen, mindestens eine halbe Stunde stylen und ein Kleid anziehen. Hilfe suchend sah sie die Treppe zu ihrer Linken hinauf. »Kathi, ich glaube, ich sollte mich erst frisch machen, bevor ich deine Gäste kennenlerne.«
»Ach was, papperlapapp! Du siehst großartig aus! Du könntest einen Kartoffelsack tragen und würdest noch umwerfend aussehen. Abgesehen davon haben sie ja gehört, dass du gekommen bist.« Sie fasste Evelin am Unterarm und zog sie zu ihren Gästen. »Darf ich euch meine Halbschwester Evelin vorstellen?«
Kathi benannte einen nach dem anderen und Evelin reichte ihnen die Hand.
Kathis Ehemann, Terenz, der einen Anzug trug und perfekt in diese Gesellschaft passte, musterte sie missbilligend, dann erhob er sich mit einem aufgesetzten Lächeln und umarmte sie. »Kathi freut sich schon seit Wochen auf dein Kommen. Sie hat von nichts anderem mehr gesprochen.«
Evelin hasste es, von Terenz berührt zu werden. Noch immer durchzog sie in seiner Nähe ein kalter Schauer.
Der Letzte in der Runde war ein sehr großer schwarzhaariger Mann. Kathi drängte Evelin zur Ledercouch und forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. Dazu ließ sie sich jedoch nicht nötigen und nahm auf einem der Polstersessel ihm gegenüber Platz. Neugierig musterte sie die Anwesenden. Das Verhalten von Kathis Freundin Ester irritierte Evelin. Diese bildhübsche Frau, die in ihrem azurblauen Cocktailkleid wie ein Model aussah, wagte es nicht, den attraktiven Mann namens Samuel zu ihrer Rechten anzusehen. Zwar warf sie ihm hin und wieder einen verstohlenen Blick zu, doch sie achtete stets darauf, dabei nicht ertappt zu werden.
Evelin konnte nachvollziehen, weshalb Samuel auf diese Frau eine solche Faszination ausübte. Macht und dreistes Selbstbewusstsein umspielten sein begehrenswertes Äußeres. Jeder, der ihn ansah, verspürte sofort einen gewissen Respekt. Evelin war sich sicher, dass sich unter dem schwarzen Designeranzug ein gut durchtrainierter Körper verbarg.
»Welchen Cocktail möchtest du?«, fragte Kathi. Die Möglichkeit, etwas Alkoholfreies zu trinken, gab sie ihr nicht. Abgesehen davon zeigte sich Kathi als die perfekte Gastgeberin. Wohlgewählte Musik untermalte die Gespräche der Anwesenden. Niemand hatte jemals ein leeres Glas und zahlreiche Snacks standen auf dem Tisch.
»Ein Caipirinha wäre toll«, flüsterte Evelin. Woraufhin Samuel verachtend ausatmete: »Wahrscheinlich ist es der einzige Cocktail, den sie kennt.«
Kathis Mann, Terenz, grinste gehässig und nickte seinem Freund verschwörerisch zu, währenddessen Kathi entsetzt und zurechtweisend »Samuel« schnaubte.
Evelin verdrehte die Augen und wusste, dass sie bei so viel Arroganz den Abend nicht nüchtern überstehen würde. »Extra weißen Rum, bitte!«, rief sie dem Butler nach. Dieser lächelte freundlich. Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass er sie gut verstand.
Kathi ließ sich auf den Platz neben Evelin sinken. Elegant schlug sie die Beine übereinander, legte die Handflächen auf ihre Oberschenkel und sah Evelin mit diesem wissbegierigen Blick, vor dem die sich bereits gefürchtet hatte, an. Lasset das Verhör beginnen!
Kathis erste Frage galt weder Evelins Wohlbefinden noch dem ihrer Kinder. »Hast du einen Mann kennengelernt?«
Evelin erstarrte. Kathis Frage verletzte sie mehr, als sie es dürfte. Wieso dachte jeder, sie hätte genügend Zeit gehabt, um zu trauern? »Kathi, bitte, das Letzte, für das mir Zeit bleibt, ist ein Mann«, seufzte sie, nachdem sie die Hälfte ihres Cocktails in einem Zug geleert hatte.
»Ach Mensch, ich rede doch gar nicht von einer Beziehung. Ich spreche von einem Mann, der wenigstens deine weiblichen Bedürfnisse befriedigt.«
»Kathi! Nein! Könnten wir das Thema wechseln?«, fragte sie diesmal verärgert.
Evelin stand kurz davor, die Wohnung zu verlassen und nach Hause zu fahren. Dieser ganze Ausflug hatte sich als einziger Fehler erwiesen.
»Männer gehen auch nicht mit jedem weiblichen Wesen ins Bett«, mischte sich Samuel ein, der Evelin abschätzig betrachtete.
Kathis Mann lachte laut auf. »Also das war des Pudels Kern«, scherzte er. Als er sich beruhigt hatte, spielte er wieder den gutmütigen, wohlwollenden, gebildeten Mann, der sich die Mühe machte, einem ungebildeten Mädchen etwas beizubringen. »Das stammt aus Goethes ›Faust‹ und bedeutet, dass dort der wahre Grund verborgen war.«
Nun lächelte Samuel ihm auch noch anerkennend zu.
Die beiden Männer hatten sich offensichtlich gegen sie verschworen. War sie wieder neunzehn und auf der Universität? Ihre anfängliche Unsicherheit aufgrund ihres unpassenden Äußeren wurde von Zorn verdrängt. Sie gab sich jedoch nicht die Blöße, sich das anmerken zu lassen. »Was soll ich machen? Mich will einfach keiner«, erwiderte sie trocken. »Terenz, da du augenscheinlich ein Faust-Kenner bist, kannst du mir doch sicher erklären, was Goethes ›Faust‹ von allen früheren Interpretationen des Dr. Faustus unterscheidet?«
»Früheren?«, fragte Terenz verwirrt.
»Na ja, Goethes ›Faust‹ war ja nicht die erste Interpretation des Faust-Stoffes.«
»Goethes ›Faust‹ ist eines der bedeutendsten literarischen Werke«, empörte er sich.
Evelin liebte Goethes ›Faust‹, und die Behauptung, dieses Meisterwerk sei ihr fremd, würde sie nicht auf sich sitzen lassen. »Goethes ›Faust‹ ist das bedeutendste und meistzitierte Werk der deutschen Literatur. Er greift die historische Geschichte des Doktor Faustus auf. Ein wichtiger Unterschied zu allen früheren Interpretationen ist, dass Faust bei Goethe am Ende erlöst wird. ›Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen‹. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist der Pakt.« Wie jedes Mal, wenn sie über Goethes ›Faust‹ sprach, geriet sie ins Schwärmen. Also zitierte sie nicht nur die berühmten Verse, die beinahe jeder kennt, sondern ganze Passagen.
»Die Jungs müssen auf der Uni vor dir ja regelrecht geflüchtet sein«, spottete Samuel, als sie fertig war, aber zum ersten Mal lag in seiner Stimme noch etwas anderes als Verachtung. Es schwang eine widerwillige Anerkennung mit.
»Evelin mag auf der Universität viele Probleme gehabt haben. Ein Mangel an Verehrern war keines davon«, verteidigte sie ihre Halbschwester.
Evelin beugte sich nach vorne, sah schräg nach oben in Samuels Augen, lächelte ihn aufreizend an und scherzte: »Da hast du recht, großer Meister. Ich war ein einsames Mädchen.«
Kathi, die gerade einen Schluck von ihrem eigenen Cocktail getrunken hatte, spuckte ihn quer über den Tisch, als sie Evelins Bemerkung hörte, hustete und rang mit Tränen in den Augen nach Luft.

2.  Samuel: Fehleinschätzung

Als Samuel Evelins Lächeln sah, stockte ihm der Atem. Ein Kribbeln zog sich über seinen Hals zu seinem Brustkorb und in tiefere Regionen. Auch wenn ihr Outfit schrecklich aussah und ihr Haar fettig, so hatte diese Frau dennoch einen gewissen Sex-Appeal. Mit ein wenig Haarshampoo, Make-up und anständiger Kleidung könnte sie ziemlich attraktiv sein.
Der verachtende Blick, den sie Terenz nach ihrer Aussage zuwarf, verwirrte ihn. Eine stille Drohung lag in ihren Augen. Er hatte nicht vergessen, dass er hier war, um seinem Freund einen Gefallen zu tun. Er war Terenz` moralische Unterstützung, um Evelins Besuch zu überstehen. Terenz hatte ihm erzählt, wie Evelin stets versuchte, einen Keil zwischen Kathi und ihn zu treiben.
In einer halben Stunde wollte die Gruppe aufbrechen, um die Klubs der Stadt unsicher zu machen. Als Evelin davon erfuhr, stand sie auf, um nach oben zu gehen und sich herzurichten. »So sehr ich es genieße, von Samuel beleidigt zu werden, so muss ich mich nun leider doch entschuldigen, um mich umzuziehen.«
»Ich beleidige dich doch nicht. Ich habe nur zum Ausdruck gebracht, dass ich verstehe, warum du keinen Mann hast.«
Evelin senkte wehmütig den Kopf, um die aufsteigenden Tränen zu verstecken. »Ich hatte einmal einen«, erwiderte sie mit vibrierender Stimme.
»Vielleicht hätte er dich ja nicht verlassen, wenn du dich ab und zu duschen würdest«, reizte sie Samuel.
Diesmal war es nicht nur Kathi, die versuchte, ihn durch das warnende Aussprechen seines Namens zu stoppen. Auch Terenz schüttelte vehement den Kopf, um ihn zum Schweigen zu bringen. Mit den Lippen formte er: »Halt deinen Mund!«
Verwirrt verstummte Samuel und starrte Evelin nach, die mit ungeahnt geschmeidigem Gang nach oben verschwand. Irgendetwas an ihr hielt seinen Blick gefangen, sodass er es nicht kommen sah, als ihn Kathi wütend gegen die Schulter boxte. »Geh nach Hause!«, befahl sie ihm. Als sie erneut zuschlagen wollte, fing Terenz ihren Arm ab. »Kathi, woher soll er es denn wissen?«
»Es ist das erste Mal, seit es passiert ist, dass ich sie dazu überreden konnte, auszugehen und andere Menschen kennenzulernen, und er macht alles kaputt«, fuhr sie ihren Mann an, bevor sie ihrer Schwester nach oben folgte.
Samuel rieb sich die Schulter. Er verstand die Welt nicht mehr. »Wovon spricht sie?«
»Ihr Mann ist vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen«, erklärte Terenz.
Samuel verschränkte die Arme und lehnte sich nach hinten. Großartig, nun war er das Arschloch. Er, der nur hier saß, weil sein Freund ihn um moralische Unterstützung gebeten hatte. Vermutlich wäre es das Beste, mit Ester zu verschwinden und all die Dinge zu tun, die er ursprünglich geplant hatte. Wieso er sitzen blieb und wartete, gab ihm selbst ein Rätsel auf. Vielleicht wollte er sich nur davon überzeugen, dass er sie mit seiner Aussage nicht all zu tief verletzt hatte. Er kannte den Schmerz, einen geliebten Menschen zu verlieren. Bewusst hätte er nie in eine solche Wunde gestoßen.
Das Ticken der alten Wanduhr, das ihn nicht vergessen ließ, wie lange die beiden Frauen bereits verschwunden waren, trieb ihn in den Wahnsinn. Als Kathi endlich ins Wohnzimmer zurückkam, atmete er erleichtert auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach musste sich Evelin wieder gefangen haben.
Der Anblick, der sich ihm kurz darauf bot, verschlug ihm den Atem. Langes rotes Haar fiel lockig über nackte Schultern und hing wie ein Schal über den Ausschnitt eines tiefblauen Kleides. Grüne, schwarz umrandete Augen funkelten wie Edelsteine. War das Evelin? Ihre Lippen glänzten, als sie sich zu einem freundlichen Lächeln formten. Wie hatte diese Frau es geschafft, diese perfekte Figur zu verbergen? Ein heißes Brennen zog sich durch seinen Körper. Er spürte die Erregung bis in die Fingerspitzen und zog Ester, die schon den ganzen Abend auf seine Aufmerksamkeit hoffte, auf seinen Schoß, um Evelins Wirkung auf sich zu verheimlichen. Der Gedanke, diese Nacht mit Ester und nicht mit Evelin zu verbringen, half ihm, sich abzukühlen. Noch nie hatte ihn Esters Körper so kalt gelassen. Warum hatte er nur diese enge Hose angezogen?
Evelins Lächeln wurde breiter, als sie langsam auf ihn zuschritt. »Samuel Andersen Schwarz. Wer hätte das gedacht?«
Sie hatte also erfahren, wer er war und wie viel er besaß. Wie Geld das Verhalten von Menschen verändern konnte! Hätte er geahnt, dass sie in Wahrheit ein geldgieriges Miststück war, hätte er keinen Gedanken an ihr Seelenheil verschwendet. Beinahe erleichtert lächelte er zurück. Seine aufkeimende Sympathie für sie war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Geldgierig hin oder her. Sollte sich die Gelegenheit ergeben, würde er um nichts in der Welt auf eine Nacht mit ihr verzichten. Nicht, nachdem er sie so gesehen hatte.
»Wer hätte geglaubt, dass das aus einem kleinen Jungen wird, der ständig mit blauer Baseballkappe und Mets-Trikot herumgelaufen ist?«
Blaue Baseballkappe und Mets-Trikot? Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. »Kennen wir uns?«, erkundigte er sich verwirrt.
»Ganz offensichtlich nicht!«, antwortete sie kühl.
Diesen Tonfall würde er ihr austreiben. Vielleicht war es ja an der Zeit, sich einen Ersatz für Ester zu suchen, und er wusste auch schon genau wen. Sie würde ihn nie wieder herablassend behandeln! Amüsiert beobachtete er, wie Evelin einen weiteren Cocktail hinunterschüttete. Ihr wievielter war das? Jedenfalls war er sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie betrunken wäre. Neugierig fragte er sie, was sie beruflich tue, doch sie ignorierte ihn und unterhielt sich mit Jakob, den Kathi nur eingeladen hatte, weil sie hoffte, ihn und Evelin zu verkuppeln. Terenz hatte ihm zuvor davon erzählt. Seit sich die kleine hässliche Raupe als wunderschöner Schmetterling entpuppt hatte, schien Kathis Plan wesentlich erfolgversprechender zu sein. Jakob himmelte Evelin geradezu an, und sie beantwortete jede seiner Fragen ohne ein Zeichen von Desinteresse. Ihre humorvolle Art gefiel Samuel. Mit ihren Aussagen brachte sie ihn nicht nur einmal zum Lachen. Wenn sie Jakob interessiert zuhörte, waren ihre Lippen meist leicht geöffnet und ihre Augen funkelten angetan. Wie war es möglich, dass er übersehen hatte, welch außergewöhnliche Schönheit sie war? War er durch Terenz` Erzählungen so voreingenommen gewesen? Als er nachdachte, fiel ihm auf, dass er es bereits vor ihrer Verwandlung, als sie gesagt hatte, dass sie ein einsames Mädchen gewesen sei, erkannt hatte.
Er hatte erwartet, dass Evelin nun, da sie wusste, wer er war, probieren würde, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Dass er sich nicht bemühen müsste, um sie zu bekommen. Doch sie würdigte ihn keines Blickes.
Eine halbe Stunde später kam die Gruppe vor einem der angesagtesten Klubs in der Nähe des Watergates an der Oberbaumbrücke an. Stolz führte Samuel seine Freunde an der Schlange wartender Gäste vorbei. Als der Türsteher ihn sah, ließ er sie sofort passieren. Samuel ging mit ihnen in den reservierten Teil des Klubs, der nicht für jedermann zugänglich war. Sein Versuch, Evelin durch den Besitz dieses Klubs zu beeindrucken, schlug jedoch fehl. Es schien ihr egal zu sein, dass er der Inhaber war. Genauso wie sie keinen Wert darauf legte, exklusiv zu sitzen. Sie ignorierte ihn weiterhin und setzte sich neben Jakob, der den ganzen Weg hierher mit ihr geflirtet hatte, an den Tisch. Nach einer Weile rutschte Jakob näher an Evelin heran. Als er auch noch den Arm hob, um ihn über ihre Schultern zu legen, schnappte Samuel, der inzwischen aussah wie eine geladene Waffe, nach Luft. Er stand kurz davor, Jakob von ihr zu reißen. ›Du hast keinen Anspruch auf sie!‹, ermahnte er sich. Knirschend biss er die Zähne zusammen, als Jakobs Arm Evelins Schultern berührte.
Erst jetzt bemerkte Evelin dessen Intentionen und sprang hektisch auf. »Entschuldigt mich bitte! Die Natur ruft.«
»Soll ich mitkommen?«, fragte Kathi.
»Ich finde mich alleine zurecht, danke«, wehrte Evelin sie ab und steuerte auf den allgemein zugänglichen Klubbereich zu.
»Du gehst in die falsche Richtung, es gibt hier oben auch eine Toilette«, rief Samuel. Evelin salutierte ihm scherzhaft zu und setzte ihren Weg unbeirrt fort.
Als sie nach einer viertel Stunde nicht zurückkehrte, blickte sich Samuel suchend um. Er entdeckte sie auf der Tanzfläche. Fröhlich bewegte sie sich mit den pulsierenden Rhythmen der Musik und wich den Männern, die versuchten ihr näherzukommen, geschickt aus. Kathi folgte seinem Blick und sah sie ebenfalls. Lächelnd stand sie auf und eilte zu ihrer Halbschwester auf die Tanzfläche. Jakob, dessen Aufmerksamkeit nun ebenso auf die tanzende Evelin fiel, erhob sich. Wie hypnotisiert schritt er hinter Kathi her.
Inzwischen saßen nur noch Terenz, Ester und Samuel an dem Tisch. Terenz, der sehr wohl wusste, wie Samuel und Ester zueinander standen, wandte sich ihr zu. »Lass uns kurz alleine, Liebes.«
Widerstandslos begab sich Ester an einen der anderen Tische.
»Was soll das werden? Ich habe dich um deine Unterstützung gebeten. Also hör auf, sie wie ein liebestrunkener Idiot anzuhimmeln!«, fauchte er Samuel an.

 

3.  Evelin: Schatten der Vergangenheit

Evelin war froh, eine Pause von Jakobs Avancen zu haben, aber noch glücklicher stimmte sie, dass sie Samuels durchdringenden Blicken entflohen war. Den ganzen Abend hatte er sie mit diesen dunklen, auf sie missmutig wirkenden Augen gemustert. Womit sie sich seine Abneigung verdient hatte, wusste sie nicht. Erkannt hatte er sie jedenfalls nicht. Hatte ihm Terenz jede Menge Lügen über sie erzählt? So wie er es immer tat. Wie er es auch bei Kathi getan hatte!Dass ihre Schwester Terenz und nicht ihr geglaubt hatte, schmerzte sie heute wie damals. Nie würde sie vergessen, wie ihr ihre Halbschwester ins Gesicht geschlagen und ihr die verrücktesten Beschuldigungen an den Kopf geworfen hatte. Abgesehen davon verstand sie Kathi beim besten Willen nicht. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Sie hatte gehofft, sich mit ihr in aller Ruhe unterhalten zu können, um ihr wieder etwas näher zu kommen. Doch alles, was Kathi von sich gegeben hatte, waren Dinge wie ›Jakob hat seine eigene Firma. Eine Villa am Stadtrand. Er fährt einen schwarzen Porsche Boxster‹ usw.Das Schlimmste war, dass Jakob gleich darauf eingestiegen war und erklärt hatte, dass er sich einen Porsche Panamera kaufen wolle, sobald er eine Familie habe. Nachdem er all die Jahre ein wildes Junggesellendasein geführt habe, sei er bereit sesshaft zu werden. Scheinbar hatte ihm Kathi von Evelins Kindern erzählt, denn er beteuerte, dass er kein Problem damit hätte, sollte eine Frau schon Kinder haben.Jakob war ein feiner, gutaussehender Kerl, aber sie konnte sich im Moment einfach nicht vorstellen, eine Beziehung einzugehen. Weil sie ihn mochte, fiel es ihr jedoch schwer, ihn offen zurückzuweisen. Wäre es Samuel, der sie so hartnäckig umschwärmte, täte sie sich leichter. Würde sie nun zu den anderen zurückkehren, käme sie nicht umhin, Jakob früher oder später vor den Kopf zu stoßen und sich anschließend vor Kathi zu rechtfertigen.Kathi sah in Jakob die Lösung von Evelins Problemen. Er besaß ausreichend Geld, um für sie und ihre Kinder zu sorgen. Sie bräuchte als seine Frau nicht mehr zu arbeiten. Ja, so dachte ihre Schwester. Sie hatte nie verstanden, dass sich Evelin mit Gregor, einem armen Studenten, zufriedengegeben hatte, wo sie doch auf der Uni genügend gutbetuchte Verehrer gehabt hatte. Dass Gregor die Liebe ihres Lebens gewesen war, hatte für Kathi nie gezählt. Sie war der Meinung, dass man solche Dinge nicht nur mit dem Herzen entscheiden dürfe. Um genau dieser Diskussion zu entrinnen, hatte sie entschieden, sich auf der Tanzfläche zu verstecken. Nachdem sie bereits bei Kathi vier Cocktails geleert hatte und im Klub mit ihren Getränken auch nicht sparsam umgegangen war, fiel es ihr leicht, sich in den Rhythmen der Musik zu verlieren. Als sie die Einleitung von »We-will-rock-you« hörte, fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt. Mit hochgestreckten Armen begann sie zu springen. Heftig wippte sie ihren Kopf auf und ab. Dann verflochten sich fremde Finger mit ihren. Alarmiert hob sie den Blick und sah direkt in Jakobs vom Alkohol rot unterlaufene Augen.Liebevoll lächelte er und hüpfte mit ihr mit. Er war für jeden Spaß zu haben. Wenn sie ehrlich war, war er ihr zu nett. Sie traute ihm nicht. Er erschien ihr zu perfekt. Meistens bedeutete das, dass ein Mensch nur einen Teil seiner Persönlichkeit preisgab. Um den Körperkontakt mit ihm zu unterbrechen, sprang sie im Kreis. Anschließend tanzte sie weiter.Jakobs rechter Arm legte sich plötzlich um ihre Hüfte und drückte sie an seine Seite. »Ich kann nicht glauben, dass du schon über dreißig bist. Du wirkst so erfrischend und siehst so jung aus. Ich habe das Gefühl, mit einer Achtzehnjährigen unterwegs zu sein.«Es war nicht das, was er sagte, sondern wie er es sagte, das sie aufhorchen ließ. Eine beklemmende Abneigung schlang sich um ihre Brust. Sie hatte ihren Mund nur einen Spalt geöffnet, als sie in seinen Augen nach einer Antwort suchte. Langsam beugte er sich zu ihr hinunter. Als ihr bewusst wurde, dass er ihre Gestik als Aufforderung, sie zu küssen, interpretiert hatte, wich sie hektisch zurück. »Mir ist heiß vom Tanzen. Ich brauche dringend etwas zu trinken«, entschuldigte sie sich und wandte sich ab, um in Richtung Bar zu verschwinden.»Warte, du denkst doch wohl nicht wirklich, dass ich dir erlaube, deine Getränke selbst zu bezahlen. Ich bin gleich wieder da!«, rief ihr Jakob zu, der sie überholt hatte und sich bei der nächsten Bar anstellte.Hierfür würde sie Kathi töten, schwor sie sich frustriert, als ihr diese plötzlich um den Hals fiel. »Ist er nicht großartig?! Ich habe so gehofft, dass er dir gefällt. Dass du ihm zusagst, war ja selbstverständlich.«Was wollte ihr Kathi damit mitteilen? Dass sie ein männerfressendes Monster war? Sie drückte ihre Halbschwester von sich weg und umfasste ihre Oberarme. Eindringlich sah sie ihr in die Augen. »Ich bin weder für eine Affäre noch für eine Beziehung bereit. Zwischen mir und Jakob wird nichts geschehen.«Kathi betrachtete sie geduldig. Ihr strahlendes Lächeln verriet Evelin, dass sie ihr kein Wort glaubte.»Sag Jakob, ich bin gleich zurück. Und Kathi! Versuche nie wieder, mich zu verkuppeln. Sonst war das das letzte Mal, dass wir uns sehen!«, drohte sie und ging die Treppe zu den Toiletten hinab. Vom Alkohol ein wenig benommen, hielt sie sich mit einer Hand an dem kühlen Handlauf fest. Das karierte Muster des Bodens erwies sich als alles andere als hilfreich, wenn man sich bemühte, das Gleichgewicht zu bewahren. In der Mitte der Treppe begegnete ihr Terenz, der sie unverhohlen von Kopf bis Fuß musterte. »Du bist ja völlig verschwitzt. Habe ich dir schon gesagt, dass du immer noch so unwiderstehlich aussiehst wie damals?«Evelin antwortete ihm nicht, sondern versuchte an ihm vorbeizuhuschen. Bevor sie jedoch die nächste Stufe berührte, versperrten ihr seine Arme den Weg. Er stützte sich links und rechts neben ihrem Kopf an die Wand und drängte sie mit seinem Körper dagegen. Für einen Augenblick hörte sie auf, zu atmen. Erinnerungen schossen wie Kanonenkugeln durch ihren Kopf und lähmten sie. Es war ihr erster Tag an der Universität gewesen. Sie besuchte ihre große Schwester und lernte dabei deren Lebensgefährten Terenz kennen. Kathi passte auf Klein Alexander auf, damit Evelin ausgehen konnte. Terenz hatte sich von ihrer Schwester überreden lassen, sie mitzunehmen. Kathi gegenüber hatte er sich sehr widerwillig gegeben. Doch kaum hatten sie Terenz` Wohnung in der Nähe der Universität verlassen, begann er sie mit Fragen zu bombardieren und gestand, dass er froh sei, dass sie nun Zeit hätten, sich besser kennenzulernen.Im Laufe des Abends bot er ihr an, gemeinsam mit Alexander bei ihm und Kathi einzuziehen. Er und Kathi hätten ohnehin mehr Zimmer, als sie benötigten. So müsste sie nicht jeden Tag mit dem Bus eineinhalb Stunden in die Stadt und eineinhalb Stunden zurück zu ihrem Elternhaus fahren. Das bedeutete, dass sie sich die tägliche Fahrt und zusätzlich das Geld für den Bus sparen würde. Evelin fand, dass sie dieses Angebot nicht annehmen könnte, aber nach einigem Drängen von Terenz und seiner wiederholten Beteuerung, dass es ihn nicht störe, wenn Alexander hin und wieder weinte, willigte sie ein.Sie ahnte nicht, worauf sie sich eingelassen hatte. In den ersten drei Monaten schien alles perfekt zu funktionieren. Sie und Terenz verstanden sich großartig. Hatte sie Probleme oder Sorgen, war er für sie die erste Anlaufstelle, und so verhielt es sich auch umgekehrt. Ja, in diesen drei Monaten wuchsen sie richtig zusammen. Evelin empfand zum ersten Mal wieder so etwas wie Geborgenheit. Doch dann begann Terenz, der damals bereits siebenundzwanzig gewesen war, sich Evelin zu nähern. War Kathi nicht da, streichelte er ihr über die Wange, kniff ihr in den Hintern, umarmte sie oder versuchte sie zu küssen. Als sie mit Alexanders Essen aus der Küche ging, zog er sie zum dritten Mal an diesem Tag an sich. Sie war ein siebzehnjähriges Mädchen, das mit dem Paket, das ihr das Leben geschnürt hatte, hilflos überfordert war und in ihm eine Art Stütze, so etwas wie einen großen Bruder gesehen hatte. »Bitte, Terenz, du bist der Freund meiner Schwester. Ich würde nie eine Beziehung mit dir eingehen. Das kann ich Kathi nicht antun. Abgesehen davon sind meine Gefühle für dich nicht dieser Art«, erklärte sie ihm.Terenz` Gesichtsmuskeln verspannten sich drohend. Aus Angst, Terenz als den Freund, mit dem sie über alles sprechen konnte, zu verlieren, und weil sie sich schlichtweg nicht anders zu helfen wusste, rannte sie mit Alexander in ihr Zimmer. Sie weinte beinahe die ganze Nacht. Als sie am Morgen aufstand, waren ihre Augen verschwollen und ihre Stimme heiser.Terenz, der am Frühstückstisch saß, blickte zu ihr auf, zog die Augenbrauen missbilligend zusammen und widmete sich wieder seiner Zeitung. Mit nackten Füßen schlich Evelin über die beheizten Fließen an ihm vorbei. Sie nahm sich ein Glas Wasser. Auf dem Weg zurück spürte sie seine Hand auf ihrem Hintern und stieß erschrocken einen Schrei aus.»Pst, sonst weckst du Kathi«, flüsterte er und zwinkerte ihr zu.Evelin hatte erst kurz zuvor das Häuschen, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, auf Terenz` Anraten hin vermietet. Diese Entscheidung bereute sie zutiefst. Hätte sie noch die Möglichkeit dazu, wäre sie nach der letzten Vorlesung mit Alexander in ihr Elternhaus gefahren.Kathi und Terenz waren nicht nur die einzigen erwachsenen Menschen in ihrem Leben gewesen, sondern auch ihre Familie, abgesehen von Alexander. Sie hatte Kathi und bald auch Terenz zu hundert Prozent vertraut. So geborgen wie bei ihnen hatte sie sich seit dem Tod ihrer Eltern nicht mehr gefühlt. Terenz` Annäherungsversuche erschütterten ihr gesamtes Universum. Plötzlich fühlte sie sich in der Wohnung nicht mehr wohl. Wie eine Maus saß sie in der Falle. Kommentarlos kehrte sie in ihr Zimmer zurück, in dem der Kleine auf sie wartete. Nachdem sie Alexander umgezogen hatte, richtete sie ihm sein Morgenfläschchen. Dabei hatte sie ständig Angst, auf Terenz zu treffen. Geduckt schlich sie an dem Wohnzimmer, in dem er seine Zeitung las, vorbei. So leise wie möglich bereitete sie den Trinkbrei zu. Gierig streckte ihr Alexander die Händchen entgegen. »Alexande hungig«, jammerte er, bevor er sich die Flasche in den Mund schob.Sie wusste, dass er mit seinen knappen zwei Jahren schon zu alt war, um morgens noch einen flüssigen Babybrei zu trinken, doch heute blieb ihr nicht die Zeit für ein anständiges Frühstück. Sie hatte nicht viel geschlafen und war zu spät aufgestanden. Hastig setzte sie ihn in den Buggy, in dem er gemütlich seinen Brei weitertrank, und eilte aus der Wohnung.Spätestens in zwanzig Minuten musste sie Alexander in der Krabbelstube abgegeben haben, um rechtzeitig zu ihrer Vorlesung zu gelangen. Ausgerechnet an diesem Tag hatte er keine Lust zu bleiben. Er ließ Evelin keine Wahl, als eine viertel Stunde dort zu warten, bis er mit den anderen Kindern spielte und nicht bemerkte, dass sie ging.Ihre Vorlesung hatte bereits begonnen, als sie über den asphaltierten Weg der Humboldt-Universität zu Berlin zur Eingangstür rannte. Eines ihrer Bücher fiel ihr aus der Hand. Ein großer blonder Mann, der mindestens fünf Jahre älter war als sie, hob es auf und streckte es ihr lächelnd entgegen. Seine braunen Augen, in denen sich Evelin verlor, strahlten Wärme aus. Perfekte weiße Zähne blitzten zwischen wohlgeformten Lippen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Bedürfnis, den Mund eines Mannes zu berühren. Wie hypnotisiert betrachtete sie ihn.»Alles in Ordnung?«, fragte er freundlich.Sie blinzelte verwirrt. Als sie hilflos mit den Achseln zuckte, kniff er ihr in die Wange. »Wenn du Hilfe brauchst, komm zu mir. Ich bin dieses Jahr Tutor bei Professor Neuhauser und für die Probleme der Studienanfänger zuständig«, zwinkerte er ihr zu.»Danke«, antwortete sie, bevor sie sich abwandte und weiterhastete. Auf die Hilfe von älteren Männern konnte sie verzichten! Sie hatte ja letzte Nacht gesehen, wohin das führte. Sie würde sich einfach damit anfreunden müssen, dass sie auf sich selbst gestellt bliebe.Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augen und ging in den Vorlesungssaal, in dem bereits alle Studenten Platz genommen hatten und sie neugierig begafften.Als sie am Abend mit Alexander in der Wohnung ankam, hatte sie das Gefühl, im Stehen einzuschlafen. Kathi begrüßte sie beiläufig und Terenz nickte ihr zu, als sie zu ihnen in die Küche kam, um für Alexander ein Abendessen zu kochen. Nachdem sie den Kleinen versorgt hatte, wusch sie ihr Geschirr ab und fiel, ohne sich zu waschen oder zu duschen, in ihr Bett. Als sie am nächsten Morgen in die Küche kam, wurde sie von Kathi umarmt. »Alles Gute zum Geburtstag«, wünschte sie ihr glücklich und eröffnete ihr feierlich: »Heute passe ich auf Alexander auf, und du und Terenz geht aus und haut ordentlich auf den Putz.«Evelin hatte ihren Geburtstag völlig vergessen. Sie war zu Tränen gerührt, als sie den Kuchen mit der Aufschrift ›Alles Gute, kleine Schwester‹ am Küchentisch entdeckte. Sie brachte es nicht übers Herz, ihr von Terenz` Annäherungsversuchen zu erzählen. Aus diesem Grund hatte Kathi auch nicht das geringste Verständnis, als sie darauf verzichten wollte, mit Terenz und seinen Freunden auszugehen.Terenz hatte bisher jeden seiner Freunde, der sich ihr zu nähern versucht hatte, sofort in seine Schranken verwiesen. Dass er es nur getan hatte, weil er sie für sich wollte, wurde ihr erst jetzt bewusst. Obwohl es nicht klug war, trank sie Alkohol und zog mit Terenz und seinen Freunden von einem Klub in den nächsten. Von den Ereignissen der letzten Tage fühlte sie sich wie erschlagen, also entschied sie, ihren Kummer zu ertränken.Gegen ein Uhr nachts suchte sie Abstand zu Terenz und seinen Kollegen. Dazu versteckte sie sich in einem einsamen Seitengang. Da ihr der Alkohol zusetzte, lehnte sie sich mit geschlossenen Augen gegen die raue Wand. Sie fühlte, dass sie nicht mehr alleine war. Als sie die Augenlider öffnete, stand Terenz, der ebenfalls nicht mehr nüchtern wirkte, plötzlich vor ihr. Er hatte die Hände links und rechts neben ihrem Kopf abgestützt.»Ich verstehe, dass du deine Schwester nicht verletzen willst. Aber seit ich dich kenne, ist sie für mich nur noch die zweite Wahl, und du brauchst mich. Du kannst das unmöglich alles alleine schaffen, nicht in deinem Alter. Denk einmal an dich. Wie einfach dein Leben mit mir würde. Kathi hat ihre Mutter und ihren Stiefvater. Sie können ihr eine Wohnung mieten. Du und Alexander bleibt bei mir. Wir gründen eine Familie und bekommen noch weitere Kinder. Ich werde für dich sorgen. Du wirst nie finanzielle Probleme haben«, redete er auf sie ein.»Terenz«, zierte sie sich und drehte sich unsicher von einer Seite zur anderen. »Ich mag dich, ich mag dich wirklich sehr, aber wie einen Bruder oder einen guten Freund. Ich liebe dich nicht.«»Du lügst!«, behauptete er starrsinnig, drückte sie mit einer solchen Wucht gegen die Wand, dass sie vor Schmerzen aufstöhnte, und küsste sie, ehe sie etwas sagen konnte. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihn an, kratzte ihn am Rücken und am Hals. Seine Nägel verletzten ihre Haut, als er ihr die Bluse aufriss und anfing ihren Busen zu kneten.»Hör auf, bitte! Ich will das nicht. Nein!«, schluchzte sie, als er seine Lippen von ihren löste, um ihre Brust zu küssen. »In diesem Gang ist nie jemand«, versicherte er ihr, als glaubte er, sie hätte nur Angst, erwischt zu werden.Evelin zitterte am ganzen Körper. »Hör sofort auf! Nein! Hilfe! Tu das nicht!«, schrie sie und versuchte ihn von sich zu stoßen.»Lass es einfach zu!«, befahl er ihr, hielt ihre Handgelenke fest und knebelte sie erneut mit seinen Lippen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Er war ein großer muskulöser Mann und sie nur ein zartes achtzehnjähriges Mädchen. Er war zu stark!Sie biss ihm in die Zunge, als ihn jemand an den Schultern packte und von ihr zerrte. Der junge Mann, der ihr am Morgen das Buch aufgehoben hatte, warf Terenz mit aller Kraft gegen die gegenüberliegende Wand, bevor er sich Evelin, die schluchzend an der Mauer zu Boden sank, zuwandte. Tröstend nahm er sie in den Arm. »Alles in Ordnung?«, fragte er fürsorglich.»Nein!«, krächzte sie, als sie die Arme um ihn schlang und an seiner Brust weinte.»Jetzt tu nicht so! Du wolltest es doch! Seit Wochen bettelst du mich mit deinem Augenaufschlag darum!«, fauchte Terenz, der langsam zu realisieren schien, was er beinahe getan hätte.»Wenn dich eine Frau weinend anfleht, die Finger von ihr zu nehmen, dann will sie es nicht!«, brüllte ihr Retter, der sie für eine hundertstel Sekunde losließ, sie aber nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht, sofort wieder an sich drückte. Er hatte erkannt, dass sie ihn nun brauchte. Obwohl er, wie er Evelin später erzählte, nichts lieber getan hätte, als die Scheiße aus diesem Kerl zu prügeln. »Ich rufe die Polizei! Denen darfst du erklären, warum du einer um Hilfe schreienden Frau die Bluse aufgerissen hast.«»Das glaube ich nicht! Sie wird mich nicht belasten. Nicht wahr? Was, denkst du, wird die Polizei tun, wenn sie dich mit achtzehn betrunken in einem Klub findet? Glaubst du wirklich, sie erlauben dir, Alexander zu behalten? Dani, es grenzt an ein Wunder, dass man dir erlaubt hat, ihn großzuziehen.«Evelin, die damals noch ihren ersten Vornamen Daniela benutzte, erstarrte schlagartig. Ein enormer Druck breitete sich von ihrem Kehlkopf aus und drohte sie zu ersticken. Alexander zu verlieren würde sie nicht ertragen. Ohne ihn wäre ihr Leben wertlos. »Keine Polizei«, flüsterte sie zustimmend.Terenz lächelte triumphierend. »Wenn du hier fertig bist, sollten wir nach Hause fahren«, sagte er, als wäre nichts geschehen, bevor er den Gang verließ.Der junge Mann, der seine langen blonden Haare zusammengebunden hatte, streichelte beruhigend über ihren Oberarm. »Wir warten, bis du wieder nüchtern bist, und zeigen ihn dann an«, tröstete er sie.Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss meinen Jungen holen! Ich muss sofort meinen Jungen holen!«, wiederholte sie laufend. Vom Schock waren ihre Gelenke steif, als sie sich von ihm löste und den Korridor entlang taumelte. Zweimal schwankte sie und musste sich an der Wand abfangen. Hilfsbereit schob er seinen Arm unter ihren und stützte sie. »Komm! Ich bringe dich heim. Mein Auto parkt ganz in der Nähe. Ich habe nichts getrunken.«Sie hatte das Gefühl, sich selbst zu beobachten, als sie nickte. »Wie heißt du?«, fragte sie ihn benommen.»Gregor.«»Hallo, Gregor ... ich bin Evelin.« Aus einem Impuls heraus benutzte sie ihren zweiten Vornamen.»Wie heißt du eigentlich noch?«, flüsterte sie unbeholfen, während sie sich an seinem muskulösen Arm festhielt.»Herzog«, antwortete er, hielt die Enden ihrer Bluse, deren Knöpfe Terenz abgerissen hatte, zusammen und führte sie durch den Klub zur Garderobe, an der sie ihre Jacke abgegeben hatte. Fürsorglich half er ihr hinein und schloss den Reißverschluss. Er hatte erkannt, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Auf dem Weg zu seinem Auto, einer uralten Ente, warnte er sie vor jeder Bodenunebenheit. Da sein Wagen nicht ansprang, mussten die beiden erst jemanden finden, der ihnen Starthilfe gab. Als sie schließlich in der Wohnung ankamen, waren Evelins Habseligkeiten bereits in Kartons gepackt. Alexander saß weinend in seinem Kinderwagen.»Nimm deinen Balg und verschwinde!«, fauchte Kathi zutiefst verletzt. Evelin ließ sich bestürzt vor dem Kleinen auf die Knie fallen, hob ihn heraus und drückte ihn an sich.»Sie ist nur ein junges, dummes Mädchen, das glaubt, sich in mich verliebt zu haben«, versuchte Terenz Kathi zu beschwichtigen. Evelin war sofort klar, dass er ihrer Schwester irgendeine Lügengeschichte aufgetischt hatte.»Was auch immer er dir erzählt hat, er lügt!«, weinte sie, doch ihre Schwester zeigte erbarmungslos auf die Tür. Evelin schaffte es nicht mehr, zu sprechen. Ihre Tränen tropften zu Boden und die einzigen Laute, die sie von sich gab, waren leise Schluchzer.»Kathi, es ist weit nach Mitternacht, du kannst sie jetzt nicht zusammen mit einem kleinen Kind auf die Straße setzen«, ermahnte sie Terenz.»Und wie ich das kann!«Gregor legte seinen Arm um Evelin und um das Kleinkind, das sich Schutz suchend an ihre Brust drückte. »Ihre Sachen holen wir morgen. Ich würde nie zulassen, dass sie mit dem Mann, der sie vergewaltigen wollte, in einer Wohnung schläft«, erklärte er trocken, während in seinem Blick eine Reihe unausgesprochener Drohungen lagen.

Terenz` feuchter Atem auf ihrer Wange, als er ihr ins Ohr sprach, riss sie in die Gegenwart zurück. Vor dreizehn Jahren hatte er sie genauso an die Wand gedrängt. Jahrelang hatte sie von diesem Vorfall geträumt und war jedes Mal schweißgebadet aufgewacht. Ihr Albtraum war nun wahr geworden.Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mein Angebot von damals steht noch, Dani. Kathi hat mir erzählt, wie schwer dein Leben seit Gregors Tod war. Wenn du meine Frau würdest, wären all deine Probleme gelöst.«»Du Arsch, du bist mit meiner Schwester verheiratet! Außerdem würde ich mir eher eine Hand abhacken, als deine Frau zu werden!«, stieß sie hysterisch hervor. »Und jetzt hau ab, oder ich zeige dir, was ich bei den zahlreichen Selbstverteidigungskursen gelernt habe.«»Evelin, ich tue dir nichts. Das damals war ein Missverständnis. Ich war betrunken und habe den Grund für deine Zurückhaltung falsch interpretiert.«»Wie kann man einen Hilferuf missinterpretieren?«Terenz tat ihre Frage ab, indem er die Augen verdrehte und unbekümmert wiederholte: »Wie gesagt, mein Angebot steht!«Trotz ihrer mutigen Worte zitterte sie am ganzen Körper. »Terenz, lass mich sofort gehen!«, bat sie ihn mit brechender Stimme.

4.  Samuel: Erkenntnis

Nachdem Terenz seinem Unmut Luft gemacht hatte, war Samuel, ohne auf ihn einzugehen, aufgestanden und hatte Ester weggeschickt. Die Lust, sie mit nach Hause zu nehmen, um mit ihr zu spielen, war ihm vergangen. Er wollte im Klub bleiben und mit seinen Freunden eine schöne Zeit verbringen. Zumindest redete er sich das ein, während er hingebungsvoll beobachtete, wie Evelin zu »We-will-Rock-you« auf der Tanzfläche hüpfte. Die Bewegungen ihres Busens unter dem Kleid verrieten, dass sie keinen BH trug. Ja natürlich, er war dageblieben, um mit seinen Freunden Spaß zu haben. Aus diesem Grund hatte er auch das Bedürfnis, Jakob die Nase zu brechen, als er zu Evelin auf die Tanzfläche ging und ihre Hände nahm.
Warum konnte dieser Verlierer nicht weiterhin Achtzehnjährigen hinterherjagen? Die Presse machte sich doch ohnehin schon lustig über ihn, weil er immer nur Freundinnen hatte, die nur einen Tag älter als nötig waren, um sich nicht strafbar zu machen. Als sich Evelin im Kreis drehte und dabei Jakob ihre Hände entriss, grinste er zufrieden und beschloss, sich zu den beiden zu gesellen. Pfeifend spazierte er die Stufen hinab, streifte mit der Hand über die grünen Wände und ignorierte die drei Frauen, die ihm nachsahen. Er suchte die Tanzfläche nach Evelin ab. Er sah nur Kathi und Jakob. Irgendetwas sagte ihm, dass Evelin erneut auf die Toilette geflüchtet war. Daher ging er durch den Discobereich direkt zu der Treppe, die zu den Toiletten hinabführte. Dort sah er, wie Terenz Evelin gegen die Wand drängte. »Wie gesagt, mein Angebot steht.«
Wie ein verängstigtes Reh starrte sie ihren Schwager an. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren. Sie zitterte am ganzen Körper. »Terenz, lass mich sofort gehen!«, bat sie mit einer Stimme, die eher dem Piepsen einer Maus glich als ihrer eigenen, die erotischer klang als jede, die er jemals zuvor gehört hatte. Als Terenz ihn entdeckte, trat er einen Schritt zur Seite und Evelin flüchtete. Sobald Terenz sicher war, dass sie ihn nicht mehr hörte, schrie er, um sein Gesicht zu wahren: »Lass mich gefälligst in Ruhe!«
»Was ist damals tatsächlich geschehen?«, fragte Samuel seinen Freund, von dem er plötzlich nicht mehr wusste, ob er mit ihm befreundet sein wollte. Zugegeben, er war selbst kein Heiliger. Er hatte Frauen schon den Hintern versohlt und Schlimmeres. Aber diese Frauen hatten sich freiwillig auf sein Spiel eingelassen, ihn regelrecht darum angefleht. Mit jeder einzelnen hatte er ein Safeword vereinbart, mit dem sie ihn hätte stoppen können, wäre er über das Erträgliche hinausgegangen. Doch Evelin hatte eindeutig nicht gewollt, dass Terenz sie festhielt. Als er sich vorstellte, was vor Jahren wirklich passiert sein könnte, zog es ihm den Magen zusammen. Er hatte sie wie eine Aussätzige behandelt, weil ihm Terenz berichtet hatte, dass Evelin als Teenager alles getan habe, um ihn und Kathi auseinanderzubringen und ihn zu Unrecht der sexuellen Belästigung bezichtigt habe. Als er Kathi einmal darauf angesprochen hatte, nickte sie zwar, aber verteidigte Evelin. Sie sei sehr jung und dumm gewesen und habe sich inzwischen geändert. Deswegen habe sie ihr auch verziehen.
Terenz blickte Samuel aufrichtig in die Augen. »Das, was ich dir erzählt habe«, beantwortete er die zuvor gestellte Frage. Dann zuckte er mit den Achseln und ging zu den anderen nach oben.
Samuel, dessen Gesichtsausdruck wie eine undurchdringliche Maske war, verriet nicht, was in ihm vorging. Selbstbewusst lehnte er sich gegen die Bar, während die anderen tranken. Mehrfach fragte er sich, was er überhaupt hier tat. Er sollte nach Hause gehen und Ester anrufen. Sie käme auch um diese Uhrzeit zu ihm. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Also beschloss er, noch zehn Minuten, zu bleiben. Er lauschte, wie Kathi Jakob versicherte, dass Evelin nur etwas Zeit brauche, um ihn kennenzulernen. Sie pries ihre Halbschwester an, als wäre sie auf einer Auktion, und versuchte, den besten Preis für sie zu erlangen. Sah sie nicht, dass Jakob gar nicht daran dachte, aufzugeben? Kathi half ihm einen Plan auszuhecken, um an Evelin heranzukommen. Terenz hingegen probierte die beiden davon abzubringen, indem er Jakob erzählte, wie verrückt Evelin sei. Er bestätigte damit Samuels Verdacht, dass in Wahrheit er in Evelin verliebt gewesen war und nicht umgekehrt. Mit seiner raffinierten und subtilen Art focht Terenz, um zu verhindern, dass Jakob und Kathi ihre Intrige durchführten. Wenn Kathi nicht so blind wäre, würde sie erkennen, dass Terenz Evelin für sich wollte. Oder sie sah es, und kämpfte daher so hart, um ihre Halbschwester mit einem anderen Mann zu verkuppeln. Das hieße jedoch auch, dass Kathi immer geahnt hatte, dass Terenz damals in Evelin verliebt gewesen war.
Er hatte nie großen Respekt vor Kathi empfunden, aber nun verlor er ihn gänzlich. Welche Frau hielte in einer solchen Situation nicht zu ihrer jüngeren Schwester? Kathi und Terenz gehörten zu seinen besten Freunden, doch momentan hätte er am liebsten geleugnet, sie zu kennen. All die Abende, an denen Terenz über Evelin gelästert hatte, sah er nun in einem anderen Licht. Als er sie in seinem Kopf Revue passieren ließ, sah er einen Mann, der den Schmerz der Zurückweisung verleugnete, und eine Frau, die sich schuldig fühlte. Alles ergab plötzlich einen Sinn.
Kathi hätte Evelin gleich in ihr Zimmer führen können. Ihr anbieten, sich erst frisch zu machen und dann zu ihnen ins Wohnzimmer zu kommen. All das hatte sie nicht getan. Sie hatte sie zu ihnen gezerrt, damit Terenz sie in ihrem verwahrlosten Zustand sah. Wütend machte ihn jedoch, dass er sie selbst so schlecht behandelt hatte. Diese Begegnung musste sehr unangenehm für sie gewesen sein. Daher auch ihr übermäßiger Alkoholkonsum. Terenz, vor dem sie sich offensichtlich fürchtete, gegenüberzusitzen und von Kathi, die nie zu ihr gestanden hatte, gedemütigt zu werden, musste für sie die Hölle gewesen sein.
Als Evelin zurückkehrte, bemerkte er zum ersten Mal, wie zerbrechlich, verloren und schützenswert sie aussah. Er konnte nicht nach Hause gehen und sie in dieser Schlangengrube zurücklassen. Womöglich würde sie sonst noch in Jakobs Bett aufwachen, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war.
Sein Gesicht verfinsterte sich. Das würde er unter keinen Umständen zulassen. Sie hatte etwas Besseres als Jakob Hartmann verdient. Also tippte er eine Anweisung an Johannes, seinen Privatassistenten, in sein Handy. Dieser würde sich um alles kümmern.

5.  Evelin: Finte

›Oh, mein Gott! Dieser Kerl kann mich wirklich nicht ausstehen‹, dachte sich Evelin. Sie spürte, wie ihre Knie unter seinem skeptischen Blick von Schritt zu Schritt weicher wurden, als sie auf ihre Schwester und deren Freunde zuging. Samuels Gesichtsausdruck wechselte zu einer beängstigenden Maske. In seinen Augen glänzte Hass. Sein Kiefer war angespannt.
Schüchtern machte sie einen Bogen um ihn herum, klopfte Kathi im Vorübergehen auf die Schulter und bestellte sich an der Bar einen doppelten Wodka. Dabei glaubte sie seinen Blick in ihrem Nacken zu spüren. Als sie der Kellnerin einen Fünfzig-Euro-Schein hinhielt, schüttelte diese den Kopf und deutete auf Samuel. »Sie sind eingeladen.«
Tatsächlich? War sie das? Aus diesem Mann wurde sie nicht schlau. Verwirrt lächelte sie ihn an und hob dankend ihr Glas, bevor sie einen kräftigen Schluck nahm und angewidert das Gesicht verzog. Sie trank nur selten Alkohol, und wenn, keine starken Getränke. Aber heute wollte sie sich betäuben. Samuel winkte die Kellnerin zu sich. Woraufhin sie ihm ein Glas mit einer roten Flüssigkeit gab. Unerwartet kam er zu ihr, nahm ihr das Glas ohne Erklärung aus der Hand, leerte etwas von dem roten Zeug in ihren Drink und streckte ihn ihr entgegen. »Trink!«, befahl er mit einer Härte, die sie zusammenzucken ließ. Vorsichtig kostete sie und stellte fest, dass dieses brennende Gesöff nun fast erträglich schmeckte.
»Besser?«, fragte er mit einer Wärme in der Stimme, die sie erstaunte.
Seine Bestimmtheit und ihre folgsame Reaktion hatten sie jedoch so verunsichert, dass ihre Handflächen schwitzten, als sie überfordert nickte. Noch nie hatte sie einen Mann wie ihn kennengelernt. Normalerweise durchschaute sie andere Menschen rasch, doch bei ihm hatte sie keine Ahnung, wie sie ihn einschätzen sollte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihr Bild von ihm aus der Vergangenheit nicht mit dem Bild, das er heute bot, vereinen konnte.

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