Liebe vergisst nicht

1.  Evelin: Vage Erinnerung

»Meine Güte, was tue ich hier? Geschieht das gerade wirklich?« Sie lag nackt unter dem heißesten Mann, den man sich vorstellen konnte. Mit jeder seiner Bewegungen entlockte er ihr ein wohliges Stöhnen. Und das, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es nicht so weit kommen zu lassen. Sie wusste, das hier änderte alles …

 

Verträumt zeichnete Evelin Herzog mit dem Zeigefinger die Konturen ihrer Oberlippe nach. Sie entsann sich des zärtlichen Kusses, der zu alldem geführt hatte. Für einen kurzen Augenblick hatte sie geglaubt, sich an etwas zu erinnern. Doch dabei handelte es sich nicht um eine konkrete Begebenheit, sondern um eine Emotion. Ein Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit, erfüllt mit tiefer Leidenschaft. Seit sie aus dem Koma erwacht war, fühlte sie sich in eine fremde Welt versetzt. Sie erinnerte sich noch an ihr früheres Leben. An ihre Kinder, ihren verstorbenen Mann, ihre Schwester und deren Taugenichts von Ehemann, aber nicht an die Zeit mit jenem Mann, der nun ihr Dasein bestimmte. Der sie offenbar dazu gebracht hatte, Gregor loszulassen und den undurchdringlichen Panzer, der seit dessen Tod ihr Herz geschützt hatte, einzureißen. Der ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte.
Sie hatte Samuel vor ihrer durch eine Operation ausgelösten teilweisen Amnesie sogar erlaubt, ihre Kinder zu adoptieren, damit sie im Falle ihres Todes bei ihm hätten bleiben dürfen. Sie musste ihm mehr vertraut haben als jedem anderen und sicher gewesen sein, dass sie kein besseres Zuhause haben könnten. Heute hoffte sie, sich in ihm nicht geirrt zu haben. Denn sich womöglich erneut mit einem reichen Mann in einem Sorgerechtsstreit wiederzufinden, ängstigte sie. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Einst hatte sie gedacht, ihrem Schwager vertrauen zu können. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie mit ihrem damals zweijährigen Bruder Alexander bei ihrer Halbschwester Kathi und dessen Mann Terenz eingezogen. Die beiden versprachen, sie in ihrer unerwarteten Mutterrolle zu unterstützen. Sie sollte trotz des tragischen Todes ihrer Eltern ihr Traumstudium absolvieren können. Anfangs schien alles gut zu funktionieren, doch bald begann Terenz sie sexuell zu bedrängen. Als sie sich ihm verweigerte, redete er ihrer Halbschwester ein, sie habe versucht, ihn zu verführen, und wollte ihr mit deren Hilfe das Sorgerecht für Alexander entziehen. Sich als beinahe mittellose Jugendliche vor Gericht gegen einen wohlhabenden und angesehenen Geschäftsmann zu behaupten, war ein Albtraum gewesen. Ohne den Rückhalt ihres inzwischen verstorbenen Ehemannes Gregor hätte sie das nie geschafft.
Nach allem, was sie hatte durchstehen müssen, konnte sie nicht wirklich nachvollziehen, wieso sie Samuel Andersen Schwarz erlaubt hatte, ihre beiden Kinder Alexander und Anna Maria zu adoptieren. Denn würde er zu den selben Mitteln greifen wie ihr Schwager, wäre er aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung um ein Vielfaches gefährlicher als dieser. Sie konnte nur hoffen, dass ihr an einem Gehirntumor erkranktes Selbst gewusst hatte, was es tat und noch zurechnungsfähig gewesen war. Eben wegen dieses Tumors hatte sie operiert werden müssen, war ins Koma gefallen und hatte einen Teil ihres Gedächtnisses verloren.
Als sie nach Monaten mit beinahe keinen Erinnerungen an diesen Abschnitt ihres Lebens erwacht war, hatte sie sich bereit erklärt, mit den Kindern bei Samuel zu wohnen, bis sie sich von den Strapazen ihrer Krankheit erholt haben würde. Wohl auch, weil sich Alexander und ihre Tochter Anna Maria während ihrer Abwesenheit an das Leben bei ihm gewöhnt hatten. Seither lebten sie gemeinsam in diesem Haus, das er eigens für sie und die Kinder gekauft hatte. Obwohl Samuel nichts tat, was sie an ihm zweifeln ließ, nagte doch ständig die Angst, eines Tages mit ihm um ihre Kinder kämpfen zu müssen, an ihr. Selbst, dass er sich liebevoll um sie kümmerte, änderte nichts daran. Kein einziges Mal hatte er sie mit unerwünschten Berührungen oder Bemerkungen bedrängt. Ganz im Gegenteil. Er verhielt sich, als wäre ihre bloße Existenz und Gegenwart mehr, als er jemals zu erträumen gewagt hätte. Erst durch ihre Ermutigung hatte er sie geküsst, und dieser Kuss hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt. Er hatte ihr endgültig die Kontrolle entrissen. Für Stunden hatte sie alle Zweifel und Bedenken vergessen. Aber langsam kehrten sie zurück. Hatte sie überstürzt gehandelt? Als er in der Küche vor ihr gestanden hatte, hatte sie sich an ihre Zuneigung für ihn erinnert. Inzwischen war das Gefühl verblasst und eine furchtbedingte Verzweiflung legte sich um ihre Brust. Hatte sie sich, getrieben vom Echo ihrer vergangenen Emotionen, zu schnell auf ihn eingelassen? Ihm womöglich falsche Hoffnungen gemacht?
Was sollte sie tun, könnte sie seine augenscheinlich aufopfernde Liebe nie wirklich erwidern? Sie mochte Samuel. Sie mochte ihn sogar sehr und fühlte sich zu ihm hingezogen. Doch liebte sie ihn? Oder wollte sie ihn nur lieben, um ihr momentan unkompliziertes und luxuriöses Leben zu behalten? Wenn dem so war, dann hatte er das nicht verdient. Sie dürfte mit ihm keine weiteren Zärtlichkeiten austauschen, bis sie sich völlig sicher war, was sie wollte.
Trotz all ihrer Bedenken konnte sie an nichts anderes denken, als ihn erneut zu küssen, in seinen Armen einzuschlafen und aufzuwachen. Sehnte sie sich bloß nach etwas Zuneigung oder war es tatsächlich einzig seine, die sie begehrte? Zum ersten Mal trauerte sie um die Erinnerungen, die sie mit ihm verbanden, die ihr vielleicht sogar die Ängste nehmen könnten. Sie wollte erfahren, wie er sie erstmals geküsst hatte, wie er ihr das Herz gestohlen und wie sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Was hatte sich zwischen ihnen zugetragen, dass er sie so bedingungslos liebte?
Sie blickte auf die zerwühlte Betthälfte neben sich. Samuel war vor über einer Stunde zu einem wichtigen Termin in sein Büro aufgebrochen. Gerade als sie aufstehen wollte, öffnete sich die Tür und ein roter Wuschelkopf trat in ihr Blickfeld. Verschlafen strich sich ihre Tochter Anna Maria die zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Warum schläfst du bei Samuel im Bett? Ich dachte, du willst dein eigenes Zimmer haben.«
Verlegen verzog Evelin den Mund. Sie wollte bei ihren Kindern keine falschen Erwartungen wecken. Wobei sie sich weniger um ihre fünfjährige Tochter sorgte als um ihren sechzehnjährigen Sohn Alexander. »In der Nacht hat es ein paar Mal gedonnert ...«
Anna Maria fiel ihr sofort ins Wort: »Und dann hast du dich gefürchtet und bist in Samuels Bett geschlichen.« Sie begann zu kichern. »Das mache ich auch immer so.« Mit einem übermütigen Sprung hechtete sie ins Bett und kuschelte sich an Evelin. »Mami, wenn du dich das nächste Mal fürchtest, darfst du auch zu mir kommen. Ich beschütze dich.« Ermutigend lächelte sie Evelin an.
Diese strich ihr zärtlich übers Haar. »Danke, mein Schatz! Tust du mir einen Gefallen? Verrate deinem Bruder nicht, was für ein Angsthase ich bin.«
»Na klar. Das ist unser großes Geheimnis«, erklärte sie stolz.
»Was ist euer großes Geheimnis?«, hörte Evelin plötzlich die amüsierte Stimme ihres Sohnes.
Erschrocken richtete sie sich auf. »Wieso bist du hier?«
»Ich habe meine Mathematikunterlagen vergessen.«
»Aber wie kamst du aus der Schule zurück?«
»Genau so, wie ich hingekommen bin.«
Fragend musterte Evelin ihren Sohn. »Mit dem Bus?«
Alexanders Augen weiteten sich, ehe er zaghaft nickte.
Misstrauisch betrachtete sie ihn. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Fährt um diese Zeit überhaupt ein Bus?«
»Warum liegst du in Samuels Bett?«, konterte er und hob frech die Augenbrauen.
Ja, warum? Mit wenigen Worten hatte er sie außer Gefecht gesetzt. Nachdenklich starrte sie ihn an. Sofort eilte ihr Anna Maria zu Hilfe. »Es hat gedonnert und Mami hat sich gefürchtet. Das kann jedem einmal passieren, also wehe, du neckst sie!«
Schmunzelnd zwinkerte Alexander seiner kleinen Schwester zu. »Das kann wirklich vorkommen. Komischerweise habe ich letzte Nacht keinen Donner gehört und geregnet hat es auch nicht. Ich bin schon um sechs Uhr aus dem Haus gegangen. Es war alles trocken.«
»Genau, ich wollte dich eh fragen, wieso du oft so früh verschwindest«, stammelte Evelin.
Ein seliges Lächeln zog sich über sein Gesicht. Verträumt blickte er aus dem Fenster. »Ich habe mich vor der Schule noch mit jemandem getroffen.«
»Mit wem?«
Grinsend schüttelte er den Kopf. »Ich muss jetzt. Du willst doch nicht, dass ich zu spät komme«, erklärte er, während er sich umdrehte.
Da ging er hin, ihr kleiner Junge, der eigentlich schon fast erwachsen war.
In den Monaten, als sie im Krankenhaus gelegen hatte, war er regelmäßig mit Samuel ins Fitnessstudio gegangen und hatte ordentlich an Muskelmasse zugelegt. Die Mädchen in der Schule mussten verrückt nach ihm sein. Er war nett, zuvorkommend, aber auch total durchtrieben und zu schlau für sein Alter.
Oft vergaß sie, dass er in Wahrheit nicht ihr Sohn, sondern ihr jüngerer Bruder war.
Mit einer plötzlichen Bewegung packte Evelin Anna Maria und drückte sie an sich. »Sollen wir frühstücken?«
Euphorisch nickte die Kleine. Evelin stand mit ihr im Arm auf und trug sie in die Küche hinunter, in der Judith bereits mit dem Essen auf sie wartete. »Guten Morgen, ihr zwei!«
»Hallo, Judith«, erwiderten Evelin und Anna Maria im Chor. Anfangs hatte Evelin Probleme damit gehabt, sich an den Tisch zu setzen und gemütlich zu essen, während Judith sie bediente, doch mittlerweile war sie daran gewöhnt eine Haushälterin zu haben. Vielleicht, weil Judith sie eines Tages darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es ihr Job sei, für sie und die Kinder zu sorgen, und sie ihre Arbeit liebte. Außerdem gestand sie ihr, dass es sie ängstigte, wenn Evelin ihr laufend das Gefühl gab, sie würde überhaupt nicht gebraucht.
Evelin und Anna Maria wollten gerade Platz nehmen, als sie hörten, wie jemand das Haus betrat.
»Wo sind meine zwei Mädchen?«, rief Samuel liebevoll. Er eilte in die Küche, hievte Anna Maria auf seinen Arm, drückte Evelin mit dem anderen an sich und drehte sich mit ihnen überschwänglich im Kreis.
Überfordert ließ Evelin seine euphorische Begrüßung über sich ergehen. Sein beherztes Lächeln führte ihr vor Augen, was die vergangene Nacht bewirkt hatte. Für Samuel waren sie nun ein Paar. Verkrampft hing sie in seiner Umarmung. Einen Moment lang musterte er sie irritiert, dann kehrte seine Zuversicht zurück. »Sollen wir übers Wochenende wegfahren?«
»Ja!«, brüllte Anna Maria sofort.
Evelin schüttelte kaum merklich den Kopf. »Lass uns kurz reden?«
»Wieso? Unsere Reisepläne können wir doch vor Anna Maria besprechen. Immerhin hat sie auch ein Mitspracherecht.«
»Genau«, pflichtete ihm die Kleine bei und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
Samuel sprach unverzüglich weiter, als wollte er Evelin erst gar nicht die Möglichkeit geben, zu widersprechen. »Ich dachte an Venedig. Wir warten, bis Alexander von der Schule kommt, und brechen anschließend auf.«
»Wo ist Venedig?«, erkundigte sich Anna Maria neugierig.
»In Italien«, antwortete Samuel. Er ließ sie runter, zog sein Handy aus der Tasche und zeigte ihr Bilder von ihrem Reiseziel.
»Wow, ist das schön, und am Meer!« Voller Begeisterung simulierte das Mädchen Schwimmbewegungen. »Wir können schwimmen gehen.«
Samuel überlegte einen Augenblick. »Wir könnten uns ein Hotel am Lido nehmen und von dort mit dem Boot in die Stadt fahren.« Er zwinkerte Anna Maria zu. »Mehrere Tage in der Stadt würden dir sicher zu langweilig.«
Evelin, die eigentlich gehofft hatte, etwas Zeit für sich zu haben, um sich über ihre Gefühle klar zu werden, versuchte mehrmals, die beiden beim Pläneschmieden zu unterbrechen, doch sie ignorierten sie einfach. Bei Anna Marias derzeitiger Euphorie würde sie diese Reise keinesfalls noch absagen können, ohne ihr einen vernünftigen Grund zu nennen. ›Mami muss nachdenken‹, würde sie als Ausrede nicht akzeptieren. »Ich war ewig nicht mehr in Venedig«, stellte sie resigniert fest.
Samuel schmunzelte verschmitzt und flüsterte für sich: »Also, das ist höchstens ein Jahr her.«
Als Evelin ihn fragend ansah, lenkte er rasch ab. »Weißt du, wann Alexander Schluss hat?«
Evelin nickte. »Er kommt immer gegen zwei nach Hause.«
»Dann packen wir alles zusammen und holen ihn direkt von der Schule ab.«
Mit langen Schritten hechtete er die Treppe hoch. Von oben hörte Evelin, wie er mit seinem Büro telefonierte und irgendetwas von einem Privatjet faselte. Scheinbar plante er, zu fliegen.
Evelin folgte Samuel in den ersten Stock, während Anna Maria in die Küche zu Judith zurückkehrte, um zu frühstücken. Gleich nachdem sie die letzte Stufe genommen und ein paar Schritte gemacht hatte, wurde sie von hinten gepackt und im Kreis gewirbelt. Samuel drehte sie zu sich, drängte sie mit seinem Körper im Flur an die Wand, presste seinen Unterleib gegen ihren und erstickte jede Gegenwehr mit einem stürmischen Kuss. Er führte ihre Arme nach oben, strich mit den Handflächen sanft an ihnen entlang, bis sich seine Finger mit ihren verflochten.
Evelin schnappte überrascht nach Luft. Ein heißer Schwall schoss durch ihre Adern und entlockte ihr ein Stöhnen. Samuel verstand es, ihr in Sekundenschnelle die Kontrolle zu entziehen. Erneut vergaß sie die Welt um sich herum und ergab sich seiner Leidenschaft. Er löste sich von ihren Lippen, hauchte »Ich liebe dich« und ließ seine Zunge ihren Hals entlanggleiten.
»Wo bleibt ihr?«, drang Anna Marias quietschende Kinderstimme vom Erdgeschoss die Treppe hinauf.
Blitzschnell entfernte er sich von ihr, streifte hektisch ihre Kleidung glatt und rief: »Süße, hast du schon fertig gefrühstückt?«
»Kommt ihr nicht?«
Samuel drückte Evelin, die sich fragte, was mit ihr geschah, einen letzten liebevollen Kuss auf die Lippen, dann wischte er sich über das Gesicht und eilte nach unten. »Na klar, hast du gedacht, wir würden dich alleine frühstücken lassen?«
Evelin brauchte einige Augenblicke, bis sie es schaffte, sich zu bewegen. Das war Rettung in letzter Sekunde. Wäre Anna Maria nicht gewesen, hätte sie ihren Fehler von vergangener Nacht wiederholt.
Obwohl er derjenige war, der ihr ständig seine Liebe beteuerte, war sie es, die sich ihm wehrlos ausgeliefert fühlte. Wieso hatte sie es nicht geschafft, ihn zu stoppen?
Benommen löste sie sich von der Wand und torkelte hinunter.
Samuel, der mit Anna Maria am Frühstückstisch auf sie wartete, biss sich verschmitzt auf die Unterlippe, als sie die Küche betrat und sich wie ferngesteuert an den Tisch setzte. Scherzend unterhielt er sich mit dem Mädchen, während seine Blicke immer wieder Evelins Lippen streiften.
Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Eine Mischung aus Wut und Verlangen.
»Judith, würdest du mit Anna Maria vielleicht etwas spielen, damit wir oben in Ruhe die Koffer packen können?«, bat sie, ohne sich von Samuel abzuwenden. Sie wollte dieses Missverständnis, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hätte, ein für alle Mal klären. Er musste wissen, dass sie kein Paar waren.
»Natürlich, sehr gern«, entgegnete diese, aber Anna Maria verfiel sofort in Protest. »Nein, ich will helfen! Ich brauche meine Taucherbrille und meine Micky-Luftmatratze. Und ich möchte unbedingt die neuen T-Shirts probieren, die mir Samuel gestern mitgebracht hat.«
»Welche T-Shirts?«, fragte Evelin verwirrt.
Samuel zerzauste Anna Marias Haar. »Die habe ich dir doch noch gar nicht gezeigt.«
Unschuldig lächelte diese ihn an. »Die Tasche stand neben meinen Spielsachen.«
Blitzschnell erhob er sich und bedachte Evelin mit einem sehnsüchtigen Blick. »Wir suchen alles zusammen und du spielst mit Judith eine Partie Memory.« Er schien eine völlig falsche Vorstellung davon zu haben, weshalb Evelin mit ihm allein sein wollte.
Ohne Vorwarnung stellte sich Anna Maria auf ihren Sessel und sprang in seine Arme. »Nein!«
Samuel schaffte es gerade noch, sie aufzufangen. »Du musst damit aufhören, mir von allen erdenklichen Höhen in die Arme zu hechten!«
Judith fasste nach Anna Maria und versuchte sie zu sich zu ziehen. »Komm, wir spielen ›Mensch ärgere dich nicht‹, das magst du doch so gern!«
»Nein!« Grinsend schüttelte sie den Kopf und klammerte sich an Samuel fest.
Resignierend zuckte Evelin mit den Achseln. Samuel verzog unglücklich die Lippen. »Du süßer Quälgeist«, begann er die Kleine zu kitzeln. Dann schwang er sie über seine Schulter und ging mit ihr nach oben. »Lass uns alles zusammenpacken!«
»Er kann dem Mädchen einfach nichts abschlagen«, flüsterte Judith, die ihm, wie Evelin, hinterhersah.
»Das ist das Gleiche wie mit den T-Shirts und den Spielsachen. Immer wenn er etwas sieht, das ihr gefallen könnte, kauft er es«, stimmte ihr Evelin zu.
»Bei Alexander ist es ja nicht besser. Klar erwartet Samuel von ihm mehr, weil er schon älter ist, aber der Junge erwähnt nebenbei, dass seine Freunde mit dem eigenen Motorroller zur Schule fahren und schwups ...«
»Und schwups? Was?«, fragte Evelin überrumpelt.
» ...fährt er eine Aprilia Tuono 125«, ergänzte Judith.
Verdutzt hob Evelin den Zeigefinger. Ohne ein weiteres Wort lief sie die Treppe hinauf.
Wütend stürmte sie in Anna Marias Zimmer, in dem Samuel mit dem Mädchen Kleidung zusammenpackte. »Du hast Alexander ein Motorrad gekauft?«
Erschrocken sah Samuel auf. »Also, ich würde es nicht gerade ein Motorrad nennen. Es ist eher ein kleines Moped.«
Vorwurfsvoll verschränkte Evelin die Arme vor der Brust.
Anna Maria betrachtete zuerst sie, dann Samuel. »Ups, du hast Ärger«, informierte sie ihn.
»Danke für die Warnung, Süße. Lässt du uns bitte kurz allein!«
Schneller als er schauen konnte, huschte sie zu Judith nach unten.
»So leicht wird man sie los. Hätte ich das gewusst«, scherzte Samuel, als er versuchte, Evelin ein Lächeln abzuringen.
Doch diese musterte ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen und wartete.
»Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich die Kinder mit Geschenken überhäufe, aber der Junge besucht eine Elite-Privatschule mit verwöhnten Kids. Du warst dagegen, dass er weiterhin von Judith zur Schule gefahren wird, weil du fandest, dass er längst alt genug sei, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Das Moped bedeutet eigentlich nur noch etwas mehr Verantwortung.«
Vorwurfsvoll nickend trat Evelin auf Samuel zu. »Nur noch etwas mehr Verantwortung?«
Wütend warf sie die Arme in die Höhe. »Weißt du, wie die Mitglieder meiner Familie fahren? Du hast ja keine Ahnung, wie rasant ich als Teenager unterwegs war.«
Samuel verdrehte anklagend die Augen. »Schlimmer als beim letzten Mal, als ich mit dir mitgefahren bin, kann es wohl kaum gewesen sein.«
Schockiert riss Evelin den Mund auf. »Ich fahre großartig! Ich war sogar einmal Stuntfahrerin.«
»Das erklärt einiges«, entgegnete Samuel trocken.
»Du hättest mit mir reden sollen, ehe du ihm ein Moped kaufst«, kehrte Evelin zum eigentlichen Thema zurück. »Oder mir zumindest sagen, dass er ein Moped hat!«
Mit einem verlegenen Lächeln flehte Samuel um Verzeihung. »Das wollte ich ja, doch dann kam Alexanders Einwand, dass du vielleicht nicht glücklich darüber wärst.«
Evelin versuchte wütend zu bleiben, aber in Wahrheit konnte sie sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Hat er dir das eröffnet, bevor oder nachdem du ihm den Motorroller gekauft hast?«
»Danach«, gestand Samuel.
»Du musst aufhören, dich von den Kindern um die Finger wickeln zu lassen. Sonst lässt du dich doch auch von niemandem manipulieren«, stellte sie schmunzelnd fest. Es gelang ihr nicht, ihre Belustigung zu verbergen. Im nächsten Moment fiel ihr wieder ein, was sie ebenfalls noch klären wollte. »Wir sollten über gestern und diese Reise reden.«
Sie sah, wie Samuel schwer schluckte und stockte. Wie konnte sie ihm das schonend beibringen?
Er schüttelte den Kopf und sein selbstbewusstes Wesen kehrte zurück. »Wieso? Möchtest du woanders hinfahren?«
Evelin traute ihren Augen und Ohren nicht. Er war ja sonst nicht so schwer von Begriff. War das eine bizarre Form des Selbstschutzes?
»Samuel, letzte Nacht, das ist so schnell passiert.«
»Aber nicht zum ersten Mal«, wehrte er ihren Einwand geschickt ab. »Du kannst dich nur nicht daran erinnern. Und auch nicht nur einmal«, fügte er zu allem Überfluss hinzu.
Ein intelligenter Mann musste diese Andeutungen doch verstehen. Womöglich war er wirklich wie Terenz und konnte mit Zurückweisung einfach nicht umgehen? Oder er verleugnete sie? Vielleicht hatte sie das vor ihrer Operation nur nicht bemerkt, weil sie ihm sofort verfallen war. »Samuel, ich finde, wir sollten besser zu Hause bleiben! Ich will mir über einiges klar werden.«
Diesmal schaffte es Samuel nicht, seinen zuversichtlichen Gesichtsausdruck beizubehalten. Unglücklich verzog er das Gesicht, als Anna Maria zu ihnen ins Zimmer stürmte. »Wieso? Ich will ans Meer fahren!« Wütend stampfte sie auf den Boden. »Ihr habt es versprochen!«
»Also, versprochen haben wir es nicht ...«, setzte Evelin an, ihr zu widersprechen, aber Samuel fiel ihr unverzüglich ins Wort: »Komm! Anna Maria wäre total enttäuscht, wenn wir dableiben. Nachdenken kannst du doch auch in Venedig.«
Anklagend betrachtete sie Samuel. Dachte er, sie bekäme nicht mit, dass er sie zu dieser Reise praktisch vom ersten Moment an genötigt hatte. Nun benutzte er ihre Tochter, um ihr ein Nein unmöglich zu machen.
Sie warf Anna Maria einen Blick zu, der ihr unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie nicht scherzte. »Anna Maria, geh nach unten! Ich will mit Samuel reden!«
Missmutig senkte diese den Kopf und gehorchte.
Samuel seufzte. »Ich glaube, ich weiß, was du mir sagen willst.«
Überrascht über diese Entwicklung wartete sie und hoffte, er würde ihr den unangenehmsten Teil der Unterhaltung abnehmen. Aber er schwieg.
»Ich muss mir erst darüber klar werden, wie ich zu dem, was letzte Nacht zwischen uns passiert ist, stehe. Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen.«
Sie rechnete mit einem enttäuschten oder wütenden Blick. Einer schnippischen Bemerkung oder einer schroffen Aussage. Doch er trat mit einem verständnisvollen Gesichtsausdruck auf sie zu und küsste sie liebevoll auf die Stirn. »Keine Sorge. Ich bin schon groß. Aber nach Venedig entführe ich dich trotzdem.«
»Wieso ist dir das so wichtig?«
Er zuckte nur unschuldig mit den Achseln.
Nachdem sie alles beisammenhatten, erledigte Samuel noch einiges in seinem Büro. Evelin spielte mit ihrer Tochter im Erdgeschoss und fragte sich, warum ihm die Venedigreise so am Herzen lag.
Gegen Mittag, als sie das Haus verließen, um Alexander von der Schule abzuholen, wartete Samuels Limousine bereits auf sie.
Alexander wirkte nicht erfreut, als Evelin und Samuel ihn vor der Schule abpassten und ihm eröffneten, dass sie wegfahren. Seine Laune verschlechterte sich zusätzlich, als Evelin ihn darauf hinwies, dass er sein Moped vor der Schule stehen lassen sollte und ihm auf diese Weise mitteilte, dass sie Bescheid wusste. Besonders als sie hinzufügte, dass sie über das Gefährt noch reden würden. Ihm musste bewusst sein, was sie davon hielt, dass er Samuel schamlos ausgenutzt und überrumpelt hatte.
Widerwillig stieg der Junge in die Limousine und verteidigte sich: »Du hättest in meinem Alter ebenfalls Ja gesagt, wenn du eine Maschine geschenkt bekommen hättest. Außerdem liegt uns das Fahren geradezu im Blut.«
Nun sank auch Evelins Stimmung. »Dass du dir ein Moped wünschst, gibt dir nicht das Recht, Samuel auszunutzen.«
»Samuel hätte mir das Moped nicht angeboten, wäre es für ihn nicht okay.«
»Er tut ohnedies schon so viel für uns. Alleine deine Schule kostet ein Vermögen.«
Plötzlich wurde Samuel zornig. Seine Muskeln verkrampften sich und er sprach durch zusammengebissene Zähne. »Alexander, tu mir einen Gefallen. Zeig doch deiner Schwester den Schulhof und lass uns für einen Moment allein.«
Alexander sah ihn überrascht an, nickte dann jedoch hektisch, schnappte sich Anna Maria und warf die Tür von außen zu.
Verdattert starrte Evelin Samuel an, während er die Trennscheibe zum Chauffeur schloss. »Hör auf, so zu tun, als wäre ich ein völlig Fremder, der Almosen verteilt«, fuhr er sie an. »Ihr seid meine Familie, verdammt noch mal! Alexander und Anna Maria sind meine Kinder. Ich habe sie adoptiert!«
»Trotzdem sind sie meine Kinder!«, fauchte sie, weil sie ihre Angst, eines Tages mit ihm um sie kämpfen zu müssen, einholte. »Du nimmst sie mir nicht weg!«
Als verstünde er die Welt nicht mehr, betrachtete er sie.
Evelin kämpfte mit den Tränen. Sie spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann.
Verletzt legte er seine Hände aneinander. »Weshalb hast du mit mir geschlafen, wenn du mir das zutraust?«
Sie schaffte es nicht zu antworten. Völlig verwirrt fasste sie nach dem Türgriff. Ehe sie diesen berührte, packte sie Samuel, drückte sie mit beiden Armen an sich und wartete. Wie von Sinnen wehrte sie sich, er aber gab sie nicht frei. Hielt sie weiterhin mit dieser sanften Bestimmtheit gefangen und erklärte einfühlsam: »Ich bin nicht Terenz. Ich würde nie unsere Kinder benutzen, um dich an mich zu binden. Du sollst nur bei mir bleiben, wenn du es auch wirklich willst. Nicht aus einem falschen Pflichtbewusstsein heraus. Doch versprich mir bitte, die beiden nie von mir fernzuhalten. Solltest du in dein Haus zurückziehen, erlaube ihnen, mich zu besuchen!«
Es war, als hätte er ihre Gedanken und Ängste gelesen und sie mit zwei Sätzen entschärft.
»Was ich vorhin gemeint hatte, ist, ...«, sprach Samuel weiter, der ihr Schweigen und ihre plötzlich gefasste Haltung als Aufforderung verstand. »... dass sie mich als ihren Adoptivvater akzeptiert haben. Alexander hat sich nichts dabei gedacht, weil er mich im Gegensatz zu dir als Familienmitglied sieht. Ich hätte mit dir wegen des Mopeds sprechen müssen, das tut mir leid. Immerhin ist es nicht ungefährlich. Es ist allerdings unfair, den Kindern jedes Mal, wenn sich dir die Möglichkeit bietet, zu erklären, dass ich nicht zu eurem Leben gehöre. Dass mich Anna Maria wie ihren Vater behandelt und Alexander in gewisser Weise auch, habe ich mir hart erarbeitet. Ich bin stolz darauf, dass der Junge mit seinen Problemen zu mir kommt und dass Anna Maria mich hin und wieder Papa nennt, wenn wir alleine sind. Wieso willst du uns das nehmen?«
Erschrocken starrte Evelin ihn an. »Das will ich doch gar nicht.« So hatte sie das Ganze einfach noch nie gesehen. »Ich will doch nur, dass du dich nicht ausgenutzt fühlst.« ›Und dass du nicht glaubst, du könntest mir die beiden wegnehmen‹, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Mache ich auf dich den Anschein, als würde ich das? Weißt du, warum wir so bescheiden leben? Weil ich weiß, dass du es anders nicht gutheißen würdest.«
»Bescheiden? Wir leben in einem riesigen Haus in Berlin und haben eine Haushälterin. Was ist daran bescheiden?«
Plötzlich verflog Samuels Ärger. Sein Gesicht hellte sich auf und wurde von tiefer Zuneigung erfüllt. »Ich liebe dich«, flüsterte er.
Evelin wollte ihm sagen, dass sie ihm nicht garantieren könne, jemals seine Gefühle zu erwidern oder nicht irgendwann einem anderen zu verfallen, aber sie schaffte es nicht. Sie versank in seinen sanften azurblauen Augen. Sekundenlang starrte sie ihn an und kämpfte gegen den Drang, sich ihm entgegenzulehnen, um ihn zu küssen. Bevor es ihr gelang, sich wegzudrehen, kam er ihr zuvor, drückte ihr einen keuschen Kuss auf die Lippen und wandte sich ab.
Entweder war er ein großartiger Schauspieler, oder er meinte es tatsächlich nur gut mit ihnen.
»Du magst es vergessen haben, aber wir gehören zusammen«, erklärte er selbstbewusst. »Ob du mit mir schläfst oder nicht, ändert nichts daran, dass ich dich liebe und immer für dich da sein werde.«
Evelin wollte ihm noch einmal erklären, dass sie ihm nichts versprechen konnte. »Aber ...«
»Aber ...«, fiel er ihr ins Wort. »... gib den Kindern bitte nicht das Gefühl, Bittsteller zu sein. Sie verdienen und haben ein Anrecht auf alles, was ich ihnen bieten kann.« Er streichelte ihr fürsorglich über den Oberarm. »Und du auch.«
Evelin, die plötzlich realisierte, wie lange sie schon gesprochen hatten, blickte suchend aus dem Fenster. »Wo sind die Kinder?«, stammelte sie besorgt.
»Darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Alexander passt sicher auf Anna Maria auf. Außerdem arbeitet der Chauffeur schon ewig für mich. Er wird sie nicht aus den Augen lassen.«
Samuel sollte recht behalten. Alexander und Anna Maria saßen in einer Eisdiele, einige Minuten vom Schulcampus entfernt. Der Chauffeur war bei ihnen und die Kleine bekam gerade einen Bananensplit serviert.
»Und, muss ich die Maschine zurückgeben?«, erkundigte sich Alexander, als Samuel und seine Mutter die Gelateria betraten.
Evelin stützte sich auf seine Schulter. »Nein, wenn du verantwortungsvoll damit umgehst und vorsichtig fährst, gehört sie dir.« Sie hatte über Samuels Worte nachgedacht und gestand ihm den Roller zu.
Erleichtert atmete Alexander auf. Dankbar himmelte er Samuel an. »Wie hast du das geschafft?«
Ein gutmütiges Funkeln blitzte in Samuels Augen auf. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Anna Maria schaufelte Vanilleeis mit Banane in sich hinein und Evelin blickte irritiert zwischen Samuel und ihrem Sohn hin und her. Die beiden hatten eine wortlose Form der Kommunikation entwickelt, die sie beinahe eifersüchtig stimmte. Ein Blick genügte und Alexander wusste, sie würden es später besprechen. Der Junge sah in Samuel vermutlich weniger einen Vater als einen besten Freund oder großen Bruder. Egal, was er für ihn verkörperte, er war eindeutig der Mann, an den er sich mit seinen Problemen wandte.

Evelin & Samuel: Venedig

Seit sie losgefahren waren, hatte Evelin viel über sich und Samuel nachgedacht. Während sie im Koma gelegen hatte, hatte Samuel monatelang alleine für die Kinder gesorgt. Es musste ungewohnt für ihn sein, sie plötzlich wieder bei jeder Entscheidung um ihre Einwilligung zu bitten. Das Mindeste, das sie ihm schuldete, solange sie bei ihm wohnte, war, volles Mitspracherecht bei Erziehungsfragen. Er hatte es sich verdient.
Evelin musterte Samuel, der Alexander und Anna Maria beim Planschen im Meer beaufsichtigte und so tat, als bemerkte er ihren bohrenden Blick nicht. Seit sie gestern angereist waren, versuchte sie sich einzureden, dass sie diese überwältigende Anziehungskraft zwischen ihnen nicht wahrnahm. Dass diese drängende Sehnsucht, ihm erneut genauso nah zu sein wie vorletzte Nacht, nicht existierte. Denn ihr Entschluss, sich zuerst über ihre Gefühle klar zu werden, ehe sie ihn noch einmal an sich heranließe, stand fest.
Plötzlich seufzte er laut. »Nun sag bitte endlich, was dich bedrückt, Evelin!«
Planlos begann sie zu stammeln. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich einredete, ihn nicht zu wollen. »Als ich nicht konnte, hast du dich um die Kinder gekümmert. Wochenlang hast du jede Entscheidung alleine getroffen und es hat ihnen nicht geschadet.«
»Ich habe es also nicht geschafft, die Kinder in der kurzen Zeit völlig zu verkorksen?«, alberte er.
Weshalb musste er ihr jetzt die Worte im Mund umdrehen? »Was ich damit ausdrücken will, ist, dass wir solange wir zusammenwohnen, gemeinsam entscheiden sollten, wie wir die Kinder erziehen.«
Samuel betrachtete sie überrascht. »Danke!«, flüsterte er. Dann rückte er näher an sie heran, sah ihr direkt in die Augen und strich mit dem Daumen über ihre Wange. Erneut fühlte sie diese Anziehung, die ihre Gedanken vernebelte. Beinahe panisch wich sie von ihm zurück, denn sonst würde sie es nicht mehr schaffen, ihm zu widerstehen. Anstatt sich zurückgestoßen zu fühlen, grinste er. »Du entkommst mir nicht!«, scherzte er mit einem Hauch von Ernsthaftigkeit, erhob sich und reichte ihr freundlich die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Lass uns an die Bar gehen! Ich bitte Alexander, auf Anna Maria aufzupassen.«
Zögernd nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Plötzlich war sie ihm ganz nah. Nur wenige Zentimeter trennten sie. Sie spürte die Wärme seiner Haut. Ihr stockte der Atem. Schnell kniete sie sich neben ihre Badetasche und kramte scheinheilig darin herum. »Geh schon voraus, ich komme gleich nach!«
Samuel, der sie beobachtete, lachte laut auf. »Ich reserviere uns schon mal einen Platz an der Bar.« Selbstgefällig schlenderte er voran.
Sie brauchte einige Minuten, um ihre Gedanken zu ordnen. Im Moment konnte sie nur an seine einladenden Lippen denken, aber das sollte sie nicht. Erst musste sie herausfinden, welche Gefühle nur eine lebhafte Erinnerung waren und welche echt.
Notdürftig richtete sie ihre Frisur, dann endlich sprang sie auf und folgte Samuel an die Bar. Sie würde sich keine Sekunde länger wie ein unsicheres Teenager-Girl verhalten. Stolz straffte sie den Rücken und bewegte sich wie eine Dame, die sich ihrer guten Figur bewusst war. Sie stolzierte an den anderen Gästen vorbei, bis sie Samuel erblickte. Ein schmerzvoller Stich schoss durch ihr Herz. Er unterhielt sich mit einer brünetten Schönheit in einem eleganten weinroten Cocktailkleid. Missbilligend rümpfte sie die Nase. War das nicht viel zu schick für den Strand?
Samuel lächelte die Frau an, während sie ihren Arm nach ihm ausstreckte, ihre Finger um seine Schulter schloss und zärtlich seine Haut massierte.
Am liebsten hätte Evelin laut aufgeschrien. Wie konnte diese Tussi es wagen, Samuel schöne Augen zu machen? Sie spürte, wie das Bedürfnis, ihre Stellung an seiner Seite zu behaupten, in ihr hochstieg. Leider hatte sie nicht den geringsten Anspruch auf ihn. Seit sie aufgewacht war, versuchte er, sie an sich zu binden. Doch sie wehrte sich ständig dagegen und bestand auf ihre Unabhängigkeit. Sie hatte kein Recht, nun eifersüchtig zu werden. Erneut sprach die Brünette, verstrahlte ihr Lächeln und neigte keck den Kopf. Evelin ballte ihre Hand zur Faust. Wie gern würde sie ihr ins Gesicht schlagen. Aber nicht, weil sie Samuel auf diese Weise anhimmelte – das geschah häufiger. Sondern weil er angetan zurücklächelte. Es war das erste Mal, dass er für eine andere Frau Interesse zeigte. Als hätte er ihren Blick gespürt, sah er zu ihr. Seine Augen erhielten diesen liebevollen Glanz, den sie immer bekamen, wenn er sie ansah. »Da kommt ja meine Evelin!«, verkündete er beinahe zu laut.
Schnell zog die Lady ihre Hand zurück und streckte sie Evelin entgegen. »Hallo, ich bin Fabiana, eine alte Bekannte von Samuel. Ich habe schon erwähnt, was für ein Zufall es ist, dass wir uns ausgerechnet in Venedig treffen.«
Zurückhaltend nahm Evelin ihren Gruß an. »Hallo!«, entgegnete sie so freundlich, wie es ihr möglich war, während sie sich scheinbar unabsichtlich zwischen die beiden drängte. »Woher kennt ihr euch?«, schoss es aus ihrem Mund. Warum hatte sie das gefragt?
Peinlich berührt sah Fabiana auf die Uhr. »Ich muss jetzt leider los.« Sie nickte Samuel mit einem Ausdruck tiefer Vertrautheit zu und ergriff regelrecht die Flucht.
Misstrauisch musterte Evelin Samuel. Dieser hob fragend die Augenbrauen. »Was ist?«
›Wer war das? Läuft da etwas zwischen euch?‹, wollte sie eigentlich fragen. Doch ihr war klar, dass ihr diese Frage nicht zustand. Nicht, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass er ihre gemeinsame Nacht nicht überbewerten sollte. Ständig hatte sie sich eingeredet, sie könnte nicht versprechen, jemals das Gleiche für ihn zu empfinden wie früher. Wieso aber störte sie das hier, wenn sie das nicht tat?
Gegen Mittag, als Anna Maria und Alexander genug vom Schwimmen hatten, verließen sie den Strand, machten sich im Hotel frisch und aßen eine Kleinigkeit. Danach fuhren sie mit dem Boot zum Markusplatz. Von dort führte sie Samuel zum Dogenpalast und zur Basilika San Marco. Anschließend schipperten die vier mit einer Gondel durch die berühmten Kanäle Venedigs, bis sie in ruhigere Gassen kamen. An einer menschenleeren, unscheinbaren Stelle bat Samuel den Gondoliere, sie aussteigen zu lassen.
Als Evelin das Kopfsteinpflaster betrat, bahnten sich Erinnerungsfetzen in ihr Bewusstsein. Vage Bilder, die zeigten, wie sie Samuel in den Schatten drängte, vor ihm langsam in die Knie sank und ...
Von einem Moment auf den anderen fühlten sich ihre Wangen glühend heiß an.
»Was wollen wir hier?«, erkundigte sich Alexander irritiert.
Evelin räusperte sich. »Samuel und ich waren schon einmal hier.«
»Du erinnerst dich?«, fragte Samuel erfreut und frech zugleich.
Verlegen nickte Evelin. »Hier hast du mich gefragt, ob ich deine Frau werden will.«
»Ja, und du hast mich ausgelacht«, entgegnete er schmunzelnd.
»Du weißt, warum.«
Alexander blickte von Evelin zu Samuel und von ihm zurück zu ihr. Die Intensität, mit der sie sich gegenseitig anhimmelten, ließ ihn die Augen verdrehen. »Wisst ihr was, ich fahre mit Anna Maria zurück zum Markusplatz und ihr zwei klärt das. Dieses Hin und Her ist ja nicht auszuhalten.«
Er wandte sich Evelin zu. »Seit Wochen himmelst du ihn an, wartest jeden Tag, bis er heimkommt, und trotzdem verhältst du dich im nächsten Moment, als wäre er ein Fremder. Du ...« Er stockte, als sein Blick auf Anna Maria fiel. »... schläfst bei ihm im Zimmer. Dann tust du wieder, als habe sich nichts verändert. Jetzt dieser intensive Blick und drei Stunden später bestimmst du wahrscheinlich, dass wir alleine in unser altes Haus zurückziehen. Aber so geht das nicht! Anna Maria braucht Stabilität. Sie sollte nicht immer Angst haben müssen, dass du von einem Tag auf den anderen mit uns abhaust.«
Mit einem herausfordernden Zwinkern sah er zu Samuel. »Setz dich endlich durch, Mann!«
Er schwang sich Anna Maria, die sofort laut zu protestieren begonnen hatte, weil sie bei Samuel und Mama bleiben wollte, über die Schulter und stieg mit ihr in die Gondel zurück. Als sie nicht zu brüllen aufhörte, flüsterte er ihr etwas zu. Augenblicklich verstummte die kleine Nervensäge.
»Habt ihr Geld?«, erkundigte sich Samuel fürsorglich, wobei er keinen Hehl daraus machte, wie sehr ihn die Aussicht, mit Evelin allein zu sein, erfreute.
»Nein, danke, ich habe noch genug Bargeld und meine Kreditkarte.«
»Deine Kreditkarte?«, wiederholte Evelin überrascht.
Alexander verdrehte die Augen und zeigte von Samuel zu ihr. »Klärt das!«
Verdattert blickte Evelin der Gondel nach und glaubte nicht, was hier gerade geschah.
Samuel räusperte sich. »Ich dachte, das mit dem Geld hätten wir in der Limousine geklärt.«
»Ja, aber eine eigene Kreditkarte mit sechzehn ... Das ist ... Wie soll er auf diese Weise jemals lernen, verantwortungsbewusst mit Geld umzugehen?«
Samuels Antwort vernahm sie nicht mehr. Unentwegt sausten Erinnerungsfetzen durch ihren Kopf, wie in einem Film, in dem man von Szene zu Szene springt. Nur dass die Bruchstücke keine Chronologie einhielten. Sie sah Samuel und sich in ihrem Bett in ihrem Haus in Ebstorf. Lachend unterhielten sie sich. Sie sah Terenz, den nichtsnutzigen Ehemann ihrer Schwester, der vor ihrer Tür stand und ihr eine Heidenangst einjagte, spürte Samuels Arme, die sich schützend über ihre Schultern legten, sie von ihrer Angst befreiten und ihr Halt gaben. Dann erinnerte sie sich an einen Samuel, der sich mit Terenz gegen sie verschworen zu haben schien.
»Evelin? Evelin ... Evelin?«
Eine Berührung an ihrer Wange riss sie in die Gegenwart zurück. Samuels azurblaue Augen musterten sie eindringlich.
Überfordert wich sie ihm aus. All die Emotionen ihrer Erinnerungen brachen über sie herein und stürzten sie in ein Chaos aus Freude, Liebe, Schmerz und Furcht. Sie konnte nicht unterscheiden, welche Empfindungen wem galten.
Verängstigt verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Bitte, ich will ins Hotel!«
»Wieso? Was habe ich getan?« Besorgt versuchte Samuel, sie zu umarmen, doch sie zuckte zusammen und schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich ... kann ...«
Tränen rannen ihr über die Wangen. »Bitte ...«
Samuel biss sich verzweifelt auf die Lippe und nickte. Diesmal schaffte er es nicht, über ihre Zurückweisung zu schmunzeln, denn er spürte, dass es anders war. »Komm, wir nehmen uns ein Taxiboot!« Erneut streckte er die Hand nach ihr aus, um sie auf ihren Rücken zu legen und sie zum Anlegeplatz zu führen, aber auch das erlaubte sie nicht.