Leseprobe

Terakon

Geheime Sprache

Reihe: Peris Night von Eva Maria Klima



Prolog

Zu erkennen, dass man mehr als ein gewöhnlicher Mensch ist - etwas Besonderes, eine Seltenheit - würde die meisten freuen. Bei mir war es nicht wirklich so. Ich liebte mein Leben. Viele hätten es als langweilig bezeichnet - ich nicht. Ich hatte meine Freunde, mein Studium und meine Eltern. Am meisten genoss ich die kleinen Freuden des Lebens, das Blau des Himmels bei Sonnenaufgang, den Geruch des Morgentaues, der in der Sonne funkelt, oder den des ersten Schnees im Winter. Es gelüstete mich nicht nach mehr Aufregung oder Abenteuer. Bekommen habe ich beides dennoch. War diese Änderung in meinem Leben gut oder schlecht für mich? Wer weiß? Wir werden sehen.

Sarah

Violett leuchtende Augen blickten höhnisch auf mich herab, während meine Mutter im Schleier eines violetten Nebels vor Schmerz und Schrecken schrie. Ich drückte meine kleinen Hände panisch gegen meine Ohren. Verzweifelt rief ich innerlich um Hilfe, dann sah ich das Gesicht meines Vaters. In meiner kindlichen Naivität war ich überzeugt, nun würde alles gut, doch das Schlimmste kam erst. Wie durch einen Nebel empfand ich schier unbeschreibliche Todesangst gepaart mit Verzweiflung und Schmerz, nein, nicht Schmerz - Höllenqualen -, begleitet von dem Gestank verbrannten Fleisches. Als ich glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, erwachte ich in meinem von Angstschweiß feuchten Bett. Erneut dieser Traum, warum hatte ich ständig diesen bizarren Traum? Meine ganze Kindheit, mein ganzes Leben bis zu diesem Tag verfolgte er mich. Dennoch gab es nur eine Person, die davon wusste - meine beste Freundin Sarah. Ich griff zum Handy, bereit ihre Nummer zu wählen, doch dann überkamen mich Zweifel. Sollte ich sie wirklich abermals mit diesem Traum belästigen? Nein, Sarah saß ohnedies im Zug auf dem Weg zu mir. Sie lebte in Innsbruck. Obwohl ich schon das dritte Jahr in Salzburg studierte, war es das erste Mal, dass sie mich besuchte. Seit dem unerwarteten, viel zu frühen Tod meiner geliebten Schwester hatte ich nur selten Lust gehabt auszugehen. Trotzdem freute ich mich darauf, mit Sarah die Stadt unsicher zu machen.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages in mich aufsaugend spazierte ich entlang der Salzach. Es war der kürzeste und auch schönste Weg von meiner Wohnung in der Akademiestraße zur juridischen Fakultät. Es war Oktober, in den bereits verfärbten Bäumen brach sich das Licht in vielen Farben und in der Luft lag der Geruch von feuchtem Laub.
Wie vereinbart erwartete mich Sarah im Innenhof der Fakultät. Schon von Weitem erkannte ich sie an ihrer Statur und an ihren kurzen, blond gefärbten Haaren. Selbst in ihrem pludrigen violetten Wintermantel machte sie eine gute Figur. Wir begrüßten einander mit einer herzlichen Umarmung gefolgt von einem synchronen »Schön, dich wiederzusehen.«
Meine hübsche Freundin war, was meine Mutter als ein ›mannstolles Weib‹ bezeichnet hätte. Sie berichtete ausführlich über die Männer, die sie während der Zugfahrt kennengelernt hatte. Sarah erinnerte sich an jeden Gesichtsausdruck und an jedes Wort, das gewechselt worden war. Auch wenn mich diese Männer beim besten Willen nicht interessierten, genoss ich es, meiner Freundin zuzuhören. Als sie mit ihren Erzählungen fertig war, saßen wir in einer Pizzeria und hatten gespeist.
Am Nachbartisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Wir waren so in unser Gespräch vertieft, dass ich die dortigen Personen keines Blickes würdigte. Ich hätte es tun sollen, vielleicht wären mir dann die lüsternen Blicke des Mannes am Nebentisch aufgefallen. Im Nachhinein betrachtet hätte es an meiner Zukunft jedoch wenig geändert. Sarah legte geräuschvoll die Hände auf den Tisch und wollte wissen, wie es mir geht. Sie gab sich mit einem einfachen »Sehr Gut« nicht zufrieden. Sie hatte als Antwort etwas mehr erwartet, verdrehte ungeduldig die Augen und animierte mich mit einer Handbewegung zu weiteren Ausführungen.
»Eigentlich ist alles beim Alten. Ich erledige meine Aufgaben und gehe zur Uni. Samstags arbeite ich im Kino.« Für meinen Teil hatte ich ihr alles erzählt. Sie aber war mit meiner Antwort nach wie vor unzufrieden und blickte mich erwartungsvoll an. Mir war klar, was sie hören wollte. »Nein, Sarah, ich habe keinen Mann kennengelernt und ja, ja, ich bin selbst schuld, weil ich viel zu selten ausgehe. Dennoch bin ich der Meinung, dass es nicht sinnvoll ist, verzweifelt nach dem Richtigen zu suchen.«
Nach langem Hin und Her verschränkte sie beleidigt die Arme. »Wenn du so weiter machst, endest du noch als alte verbitterte Jungfrau und deine einzige Bezugsperson ist eine viel zu dicke Katze namens Timmy.« Sie hatte immer schon einen leichten Hang zur Theatralik gehabt und ich zum Sarkasmus. »Wenn du willst, kannst du dann in zwanzig Jahren nach deiner fünften Scheidung bei mir einziehen und wir mästen Timmy gemeinsam«, antwortete ich. Nach einer kurzen Pause, in der wir beide grinsten, zahlten wir und verließen mit einem »Auf ins Peris Night« die Pizzeria.
Das ›Peris Night‹ war die angesagteste Disco Salzburgs. Dieses Lokal am Rande der Stadt hatte sogar einen eigenen VIP-Bereich, was mir lächerlich erschien. Obwohl, ich musste gestehen, ich war neugierig, welche Voraussetzungen erforderlich waren, um zur Salzburger Disco-VIP-Gesellschaft zu zählen. Vor Mozarts Geburtshaus überkam mich ein euphorisches Gefühl, also breitete ich die Arme aus, legte meinen Kopf in den Nacken und drehte mich genussvoll im Kreis. »Sarah, ich bin froh, dass du da bist.« Ich hatte genügend Freunde und Studienkollegen, um nicht einsam zu sein, aber Sarah war etwas ganz Besonderes.
Von der Bushaltestelle beim Europark, dem größten Shoppingcenter Salzburgs, waren es nur ein paar Minuten bis zur Disco. Von außen war es ein unscheinbares Gebäude. Das Einzige, das verriet, dass es sich um eine Disco handelte, waren die azurblaue Aufschrift ›Peris Night‹ und die Menschen, die davor standen und auf Einlass warteten. Die Disco war bereits überfüllt, die Musik zu laut und es gab dieses für Discos übliche dumpfe Licht. Im Unterschied zu anderen Tanzlokalen schimmerte es in einem sanften Blauton. Den uns umgebenden Natursteinwänden, aus deren Ritzen und Spalten Blumen wuchsen, entsprang ein in einem kräftigen Türkis beleuchteter Wasserfall. Auf dessen linker Seite war er, der begehrte VIP-Bereichseingang, bewacht von einem großen, düster in die Menschenmasse starrenden, muskulösen Mann. Sarah gestand, dass es ihr gefallen würde, in diesen Teil der Disco eingeladen zu werden. Warum war ich nicht überrascht?
Nach etwa einer Stunde entschuldigte ich mich, um die Toilette aufzusuchen. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Meine langen, von Natur aus blonden Haare mit Strähnen von hell- bis dunkelblond und ihrem leichten Rotstich fielen locker über meine grüne Bluse. Ich mochte diese Bluse, denn sie brachte meine blauen Augen zur Geltung. Um meinen Schmollmund zu betonen, trug ich einen dezent rosa schimmernden Lippenstift. Obwohl ich nicht dürr war, war meine Figur stimmig.
Bei meiner Rückkehr sprach Sarah mit zwei Männern. Als ich die beiden von Weitem genauer betrachtete, breitete sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengrube aus. Irgendetwas an ihnen alarmierte mich. Sie sahen niveauvoll und mehr als gut aus, dennoch hatten sie etwas sehr Befremdendes, Störendes an sich. Jede Faser meines Körpers befahl mir zu rennen. Ich unterdrückte den Wunsch zur Flucht, sammelte meinen Mut, ging so selbstbewusst wie möglich auf die drei zu und als ich ihnen gegenüberstand, stellte ich mich höflich vor. »Hallo, mein Name ist Melanie.« Um meine Unsicherheit zu überspielen, grinste ich meine Freundin neckisch an. »Man kann dich wirklich keine Minute alleine lassen.« Ihre Antwort war ein gespielt schockierter Gesichtsausdruck.
Die beiden Männer begutachteten mich unterdessen. Begutachten war das richtige Wort, um ihre musternden Blicke zu beschreiben. Man hätte meinen können, ich sei ein Rennpferd, das von den Wettenden vor dem Rennen bewertet wird. Als sie mit ihrer unhöflichen Evaluierung fertig waren, warfen sie sich gegenseitig einen schnellen Blick zu. Dieser verriet, dass ihnen gefiel, was sie sahen. Der Kleinere lächelte mich an und dieses Lächeln war so charmant und freundlich, es hätte keine Frau kalt gelassen.
»Hallo, ich heiße Philippe und das ist mein Freund Alessandro«, sagte er mit einer mehr als sympathischen Stimme.
Hatte ich mir ihre vorhergehende offensive Musterung nur eingebildet? Philippe wandte sich mir zu. »Deine Freundin hat zugestimmt, mit an unseren Tisch zu kommen, möchtest du uns ebenfalls begleiten?«
Was sollte ich denn sonst tun? Meine Freundin, die nur mir zuliebe nach Salzburg gekommen war, alleine lassen? »Warum nicht?«, antwortete ich kurz und schmerzlos.
Der größere, Alessandro, deutete uns mit einer Handbewegung mitzukommen und ging voran. Sarah stupste mich an. »Die beiden sind so süß. Ich war mir sicher, du wärst einverstanden.« Ich nickte zustimmend und sah über meine Schulter nach hinten. Philippe schmunzelte, hatte er uns gehört? Nein, das war praktisch unmöglich. Alessandro führte uns in den VIP-Bereich und Sarah strahlte vor Freude. Ich persönlich war mir nicht sicher, ob ich mich über diese Entwicklung freuen sollte. Hier zu sitzen bedeutete, dass jeder neugierig war, wer man war. Außerdem glaubten unsere Begleiter gewiss, wir wären begeistert, was ihnen höchstwahrscheinlich ein Gefühl von Überlegenheit gab und uns zur leichten Beute machte. Sarah genoss diese Art der Aufmerksamkeit. Mir war es nicht gelungen, meine Ablehnung zu verbergen. »Hast du ein Problem damit, hier zu sitzen?«, fragte Philippe plötzlich.
»Nein, warum sollte ich?«, sagte ich ertappt.
»Erfreut siehst du jedenfalls nicht aus. Dein bezauberndes Lächeln ist verschwunden. Was ist los?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte mit einem verlegenen Lächeln auszudrücken, dass ich nur in Gedanken versunken gewesen war. Misstrauisch erwiderte er es.
An ihrem Tisch saßen fünf Männer und drei Frauen. Die Frauen waren offensichtlich auf dieselbe Weise wie wir zu der Ehre gekommen, hier zu sitzen. Sie waren alle braunhaarig und schienen sehr modebewusst. Hätten sie als Models gearbeitet, wäre ich nicht überrascht gewesen. Sarah passte perfekt in diese Gesellschaft. Ich fühlte mich jedoch etwas deplatziert.
Philippe stellte uns die am Tisch sitzenden Personen vor. Der erste Mann, Michael, sah einfach fantastisch aus. Er hatte dunkelblonde Haare, strahlend blaue Augen, einen markanten Unterkiefer und war muskulös gebaut. Er war perfekt, ein schöner Mann. Äußerst interessiert reichte ich ihm die Hand. Er nahm sie nicht, sondern nickte und warf mir einen unbeeindruckten und sichtlich genervten Blick zu. In diesem Moment konnte ich nachempfinden, wie sich der Glöckner von Notre-Dame gefühlt haben musste. Der Name des nächsten war Stefan. Alle Männer hatten einen sehr guten Körperbau. Sie waren überdurchschnittlich attraktiv, jedoch der erste Eindruck, den sie bei mir hinterließen, gebot zur Vorsicht. Irgendetwas an ihnen war eigenartig. Ich hatte das Gefühl, die Männer zu diskriminieren. Was war nur mit mir los? Normalerweise urteilte ich nicht vorschnell über andere. Diese Herren hatte ich bereits als furchterregend empfunden, bevor sie auch nur ein Wort gesprochen hatten.
Wir setzten uns zu Michael auf die Bank. Ohne dass wir etwas bestellt hatten, wurden uns Cocktails gereicht und nach ein paar Minuten des Bekanntmachens hatten wir eine lustige Zeit. Die ersten Worte waren gewechselt, alle Vorurteile meinerseits vergessen und am Tisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Einzig Michael wirkte die ganze Zeit über gelangweilt und genervt. Sein Verhalten verwirrte mich, es war, als wollte er überhaupt nicht hier sein. Ich hatte beinahe Mitleid mit ihm. Daher lächelte ich ihn aufmunternd an, aber er verdrehte nur die Augen und richtete seinen Blick in die mir gegenüberliegende Richtung. Erneut hatte er in mir ein Gefühl der Beschämung und Zurückweisung hervorgerufen. Stefan beobachtete ihn mit zusammengezogen Brauen, dann warf er mir einen kurzen beschuldigenden Blick zu. Was hatte ich getan? Ich hatte nichts gesagt, ein Blick und ein Lächeln konnten unmöglich derart verwerflich sein. Wäre ich doch zu Hause geblieben.
Später, als wir uns alle kennengelernt und ein wenig Vertrauen aufgebaut hatten, stellte eine der Frauen fest: »Ich wäre euch sogar in diesen Bereich gefolgt, wenn ihr nicht so gut aussehen würdet. Ich wollte schon in diesen Abschnitt der Disco, seit ich das erste Mal hier war.«
Die anderen anwesenden Damen, ich ausgenommen, stimmten lachend zu. Die Männer schienen nicht überrascht. Nur Philippe grinste wissend. »Melanie war nicht sehr erfreut, als sie feststellte, dass wir hier sitzen. Also gibt es wenigstens eine, die mitgekommen ist, weil sie uns nett fand.«
Ich schüttelte belustigt den Kopf. »Ehrlich gesagt fand ich euch im ersten Moment ganz schön beängstigend. Der einzige Grund, warum ich nicht umkehrte und schreiend das Weite suchte, war Sarah.«
Alle am Tisch Sitzenden, besonders die Herren, amüsierten sich über meine Aussage. Nach meinem Geständnis fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wesentlich wohler. Mir wurde bewusst, wie angespannt ich gewesen war. Ich atmete tief und genussvoll ein und mit einem Glücksgefühl wieder aus. Nun fühlte ich mich befreit und ausgelassen. Es war das erste Mal, dass mich Michael nicht mit einem Ausdruck, der völliges Desinteresse widerspiegelte, betrachtete. Er wirkte nicht mehr zu Tode gelangweilt. »Das gehört zu unserer Masche. Wir versetzen die Frauen zuerst in Todesangst, damit wir anschließend die großen Beschützer spielen dürfen«, sagte er lachend. Dann stand er auf, verdrängte Phillipe schonungslos von seinem Platz neben mir, warf lässig den Arm um meine Schultern und zwinkerte mir zu. »Also keine Angst, ich beschütze dich.«
Verwirrt, überfordert, aber auch erfreut über sein plötzliches Interesse entfernte ich mich von ihm und wich seinem Blick aus. Nach einer Weile, in der Michael ständig versuchte mit mir ins Gespräch zu kommen, überkam mich das Bedürfnis zu tanzen. Sarah und die anderen hatten keine Lust. Ich ließ mich dadurch nicht abhalten, sprang auf, nahm noch einen kräftigen Schluck von meinem Cocktail und ging selbstbewusst aus dem VIP-Bereich zur überfüllten Tanzfläche. Ich hatte gerade erst angefangen mich langsam zur Musik zu bewegen, als mir bereits der erste Betrunkene Gesellschaft leisten wollte. Ich wies ihn dezent und, wie ich hoffte, nicht verletzend zurück und entfernte mich von ihm. Erneut begann ich mich glücklich und freudestrahlend im Rhythmus der Musik zu wiegen. Als der Trunkenbold seinen verschwitzten Arm um meine Taille legte und mich zu sich ziehen wollte, wurde ich wütend. Ich wand mich aus seiner Umarmung und sagte unmissverständlich, er sollte mich gefälligst in Ruhe lassen. Einer seiner Kumpel hatte uns beobachtet. Er kam zu uns und entschuldigte sich für seinen Kollegen. Auch er war betrunken und seine Gesellschaft nicht minder störend. Die Lust am Tanzen war mir vergangen.
Auf dem Weg zum Tisch entdeckte ich Michael. Er hatte sich lässig mit verschränkten Armen gegen einen der Bäume, die den VIP-Bereichseingang darstellten, gelehnt und beobachtete mich selbstbewusst und ungeniert. Als ich an ihm vorbei ging, machte er einen Schritt auf mich zu und folgte mir zum Tisch. »Lange hast du ja nicht getanzt.« Ich drehte mich kurz um und sah, wie die beiden Besoffenen vom Türsteher hinausgeleitet wurden. Auch die anderen stellten fest, dass ich nicht lange weg gewesen war. Einzugestehen, dass mir ein paar Betrunkene den Spaß am Tanzen verdorben hatten, war mir peinlich. Daher entschloss ich mich dazu, nichts zu sagen und zu warten, bis der Moment vorüber war, doch auf Michael war Verlass. »Ein paar Betrunkene haben sie auf der Tanzfläche belästigt, also hat sie sich auf den Rückweg gemacht.« Alle am Tisch beäugten mich und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
Sarah, die inzwischen auf Alessandros Schoß saß, rettete mich, indem sie das Wort ergriff und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Da hatten wir ja noch einmal Glück, ansonsten hätten wir sie heute nicht mehr gesehen. Wenn sie einmal zu tanzen beginnt, hört sie nicht mehr auf.«
Alessandro und sie saßen neben Philippe auf der Bank. Philippe warf Alessandro einen eindeutigen Blick zu, woraufhin dieser mit Sarah aufstand und mir neben seinem Freund Platz machte. Es war nicht zu übersehen, Philippe wollte neben mir sitzen. Michael, der die Intrige im Hintergrund ebenfalls beobachtet hatte, schwang sich flink auf die für mich bestimmte Sitzfläche. Ich weiß, es war unhöflich, aber ich konnte mir ein kurzes lautes Lachen nicht verkneifen, zu köstlich war Philippes Blick. Michael war wohl nicht der Sitznachbar, den er sich gewünscht hatte. Ich setzte mich neben Michael, der einen gespielt unschuldigen Gesichtsausdruck aufsetzte. Stefan war die kleine Episode nicht entgangen. Im Gegensatz zu Philippe wirkte er über Michaels plötzliches Interesse an mir erfreut. Gleich darauf steckten Michael und Philippe die Köpfe zusammen und unterhielten sich. Sie schienen überzeugt, dass sie niemand am Tisch verstand. In diesem Bereich war die Musik weniger störend und wir saßen dicht nebeneinander. Sie nicht zu hören, war ein Ding der Unmöglichkeit.
»He, ich habe sie entdeckt, sie gehört mir!«, sagte Philippe zu Michael.
»Sie will dich nicht, sie ist nicht an dir interessiert und sie wird heute nicht mit dir schlafen. Woher nimmst du also den Erstanspruch? Ich muss zugeben, sie hat etwas«, erwiderte Michael.
Verdutzt, dass sie neben mir so offen miteinander sprachen, dachte ich amüsiert: ›Na ja, wenn sich meine Cocktails weiterhin von selbst erneuern, garantiere ich für nichts.‹ Immer, wenn ich ein Glas geleert hatte, stellte mir eine Kellnerin sofort ein neues hin.
»Michael, ich bin nicht blöd, aber mit ein bisschen Magie ist alles möglich. Komm, sieh mich nicht so an.«
»Sieh dir die anderen Frauen doch an. Sie sind so begeistert, die Aufmerksamkeit von VIPs erregt zu haben, dass sie sicher eine Menge tun würden, um diese zu behalten. Warum wählst du nicht eine von ihnen?«
Ich konnte meinen Ohren kaum trauen. Michael hatte Sarah und die anderen gerade als oberflächliche Schlampen abgestempelt. Ich wurde ärgerlich und mein Temperament schäumte über. Bestimmt drehte ich mich den beiden zu. »Es reicht, reißt euch mal wieder zusammen, ihr sprecht über meine Freundin. Außerdem könnt ihr euch sicher sein, dass ich heute mit keinem von euch schlafe. Vielleicht solltet ihr eure Aufmerksamkeit besser einer anderen widmen.«
»Kann sie uns hören?«, fragte Philippe Michael verblüfft und ignorierte mich.
»Natürlich kann ich euch hören. Ihr sitzt neben mir. Wie könnte ich euch nicht verstehen? Ihr bemüht euch ja nicht einmal leise zu sprechen!« Meine Worte waren etwas lauter als beabsichtigt. Jeder am Tisch starrte mich an, die Frauen, als wäre ich verrückt, und die Männer, als hätte ich sie nicht mehr erstaunen können, hätte ich mich in einen Frosch verwandelt. Sarah musterte mich vorsichtig. »He Süße, die beiden haben schon seit Minuten kein Wort mehr gewechselt. Ich hatte Angst, dass sie mit offenen Augen eingeschlafen wären.«
Was war hier los, wurde ich verrückt? Nein, hier war irgendetwas faul. Wie konnte es sein, dass Sarah ihr Gespräch nicht bemerkt hatte. Sie wären ruhig mit offenen Augen dagesessen, das konnte nicht sein. Alles was ich wollte, war so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor ich noch rosa Elefanten sähe. Es war halb eins. Ich sagte, ich müsste am Morgen meine Aufgaben für die Uni erledigen, was gelogen war, aber es verschaffte mir einen Grund, nach Hause zu gehen. Um Sarah den Abend nicht zu verderben, drückte ich ihr, mit einem schlechten Gewissen sie alleine zu lassen, meinen Zweitschlüssel in die Hand und verabschiedete mich. Aber so leicht würde sie mich nicht gehen lassen. »Komm schon, du hast gesagt, das Wochenende gehört mir und wir haben noch nicht einmal getanzt.« Als ich zögernd stehen blieb, zog sie verärgert die Augenbrauen zusammen und ergänzte: »Außerdem hast du deine Aufgaben bereits erledigt.«
Verräterin! Ich sah sie unglücklich an und setzte mich bloßgestellt und mit verschränkten Armen auf meinen Platz zurück. Es war nicht überraschend, dass am Tisch meinetwegen eine peinliche Stimmung herrschte. Immerhin hörte ich Gespräche, die offenbar nicht geführt worden waren.
Michael legte ermutigend seinen Arm um mich. »Du steigst heute wirklich nicht mit mir ins Bett, auch wenn ich ganz lieb bitte?«, fragte er neckisch. Sein übertrieben flehender Gesichtsausdruck war zu lustig. Ich grinste und schüttelte den Kopf. Er sprang gespielt auf und täuschte vor, einem Mädchen nachzurufen, es solle auf ihn warten. Alle lachten und die Atmosphäre entspannte sich. »Na eben, kein Grund zu flüchten«, flüsterte er mir ins Ohr. Einige Minuten später hatte unsere Unterhaltung wieder ihren lustigen Fluss. Doch etwas hatte sich verändert, alle anwesenden Männer waren schlagartig an mir interessiert. Auf jeden Fall schloss ich das aus ihren faszinierten Blicken. Sarah fiel der Stimmungswechsel ebenfalls auf. »Vielleicht sollte ich mich auch einmal verrückt stellen, dieser Trick ist mir neu«, flüsterte sie mokant.
Michael sprach mit mir über mein Studium, über Hobbys und warum es in Österreich Waschbären gab. Diese waren übrigens aus irgendeinem deutschen Zoo ausgebrochen. Es war nicht wichtig, worüber wir sprachen, was zählte war, dass wir einen Scherz nach dem anderen machten und uns wirklich amüsierten, was man von Philippe nicht behaupten konnte. Er versuchte ständig an unserem Gespräch teilzuhaben, aber Michael blockte ihn gekonnt und unauffällig mit seinem Körper aus meinem Blickfeld. Dies war nicht allzu schwer, denn Michael war wesentlich größer als Philippe und saß zwischen uns. Ungefähr um eins erhielt er einen Anruf. Dass er trotz der Musik telefonieren konnte, war mir schleierhaft. Als das Gespräch beendet war, verkündete Michael, er und die Jungs müssten jetzt los. Wir waren eingeladen hier sitzen zu bleiben und uns einen schönen Abend zu machen. Sarah bekam von Alessandro einen Abschiedskuss und dann waren sie auch schon verschwunden. Nach dem kleinen Vorfall von vorhin war ich erleichtert, dass weder Philippe noch Michael versuchten mich zu küssen.
Sarah war völlig aus dem Häuschen. Sie konnte nur noch von einem sprechen, Alessandro. Er hatte sich nach ihrer Telefonnummer erkundigt und sie konnte seinen Anruf kaum erwarten. Da nun alle am Tisch Verbleibenden Lust hatten zu tanzen, tanzten wir. Später wurde eine Flasche Bacardi an das Paar, welches am aufreizendsten tanzte, verlost. Was soll ich sagen, wir waren betrunken, übermütig und wollten diese Flasche.
Zwei Stunden später machten wir uns mit dem letzten Bus auf den Heimweg. Meine Wohnung lag in der Akademiestraße, eigentlich handelte es sich dabei mehr um ein großes Zimmer mit Kochgelegenheit und Bad. Es war nicht viel, aber es gab mir die nötige Privatsphäre. Mit der Dekoration meines Zimmers hatte ich mir Mühe gegeben und daher wirkte es heimelig. An der Wand über meinem Bett hing ein alter indianischer Traumfänger, ein Geschenk meiner Eltern. Der Platz für ein Gästebett war nicht vorhanden, deshalb schliefen wir beide in meinem Doppelbett.
Am nächsten Morgen ging ich als Erstes ins Badezimmer, genoss eine Dusche, putzte mir die Zähne und schminkte mich dezent. Da Sarah noch schlief, schrieb ich ihr eine Nachricht, verließ die Wohnung, spazierte zum Zentrum Herrnau, besorgte frische Semmeln für das Frühstück und Orangensaft gegen den Kater. Sarah schwor auf Orangensaft. Als ich zurückkam, schlief sie noch, also nahm ich meine Unterlagen zur Hand und lernte ein wenig. Gegen Mittag war Sarah noch immer nicht wach. Da meine Schicht im Kino schon in einer Stunde begann, frühstückte ich alleine und zog meine Arbeitskleidung, bestehend aus einem blauen Hemd und einer schwarzen Hose, an. Ich verließ die Wohnung, noch bevor sie wach wurde.
Das Kino am Bahnhof befand sich mit vielen Bars und Restaurants in einem Gebäude. Wenn man dieses Haus betrat, war das Einzige, das an ein Kino erinnerte, der blaue Ticketschalter. Meine Arbeitskollegen warteten bereits auf mich. Meine erste Aufgabe an diesem Tag war es, für Popcorn-Nachschub zu sorgen. Das bedeutete in den kleinen Raum mit der Popcornmaschine zu gehen, immer wieder Körner, Salz und Fett in die Maschine nachzufüllen und das entstehende Popcorn in große, gelbe Säcke zu packen. Normalerweise machte ich das gerne, aber mit einem vom Alkohol noch mulmigen Magen war der Geruch von frischem und fettem Popcorn ein Graus. Später verkaufte ich Snacks am Kiosk und anschließend kümmerte ich mich um den Saaleinlass bei einem der unteren Säle. Stefan, einer der Männer vom Vorabend, besuchte gemeinsam mit einer wunderschönen Frau diese Vorführung. Er war in einen langen, eleganten Ledermantel gekleidet. Der dunkelbraune Mantel hatte exakt die Farbe seiner Haare. Seinem schönen und perfekten Gesicht mangelte es meiner Meinung nach an Ausdruck. Er war hübsch, keine Frage, aber es fehlte einfach das gewisse Etwas, das die Symmetrie durchbrach. Durch den fehlenden Farbkontrast zwischen Mantel und Haaren ähnelte sein Anblick einem Gemälde. Er erkannte mich sofort. Er wirkte unschlüssig. Rang er wegen etwas mit sich selbst? Was es auch war, es konnte nichts mit mir zu tun haben, oder etwa doch?
Als ich das Kino verließ, wartete Sarah bereits auf mich. Alessandro hatte sie angerufen und für kommenden Freitag eingeladen. Sie sollte mir ausrichten, auch ich sei herzlich willkommen. Sarah hätte nächstes Wochenende arbeiten müssen, aber sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, mit einer Arbeitskollegin die Schicht getauscht und sich somit für kommendes Wochenende bei mir angekündigt. Am Sonntag fuhr sie zurück nach Innsbruck. Ich tauschte meine nächste Samstagsschicht im Kino mit einer meiner Mitarbeiterinnen, um nicht wieder nach einer schlaflosen Nacht arbeiten zu müssen. Diese Woche würde ich also am Dienstag jobben.
Ich studierte nun schon das siebte Semester Computerwissenschaften. Während der Großteil der Fächer in unserem eigenen Institut im Norden Salzburgs unterrichtet wurde, hatten wir manche Vorlesungen an der Nawi. So nennen die Studenten die naturwissenschaftliche Fakultät, die sich praktischerweise in Gehweite meiner Wohnung befand. Die Nawi ist ein sehr bekanntes und bedeutendes Bauwerk, entworfen vom berühmten österreichischen Architekten Wilhelm Holzbauer. Ich überquerte den runden Vorhof mit seinem imposanten Steinbrunnen und betrat wie jeden Montag pünktlich um acht Uhr die Fakultät. Ein Freund von mir und ich hatten es uns zum Ritual gemacht, unsere Aufgaben montags vor dem Seminar gemeinsam zu überprüfen. Ich setzte mich in unsere übliche Lernecke und wartete auf Andreas. Ich nützte die Zeit, um über die seltsamen Ereignisse in der Disco zu grübeln und an Michael zu denken. Wie er aussah, an seine perfekt geschwungenen Brauen, seine strahlend blauen Augen und seinen verlockenden Mund. Wie lustig es mit ihm gewesen war und wie absonderlich die Männer im ersten Moment auf mich gewirkt hatten. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Andreas bei seiner Ankunft von den merkwürdigen Begebenheiten in der Disco zu berichten, doch er versetzte mich und kam erst kurz vor Seminarbeginn. Er entschuldigte sich für die Verspätung, ein Problem in der Firma hatte ihn aufgehalten. Ich mochte Andreas, er war nett, konnte zuhören und wir hatten immer viel Spaß zusammen. Für ihn war die Uni eine Freizeitbeschäftigung, so eine Art Hobby. Ernst nahm er eigentlich ausschließlich den Job in der Firma seines Vaters. Auch wenn er es mir bereits des Öfteren erklärt hatte, verstand ich nach wie vor nicht, worin die Tätigkeit dieser Firma bestand. Doch abermals zu fragen war mir peinlich. Er war einer dieser Männer, die bei jeder Gelegenheit ein anderes Mädchen hatten. Er hatte dunkelblonde, lockige Haare, blaue Augen und ein männliches Kinn. Sein Aussehen hatte alles, was Frauen anspricht. Es war jedes Mal erneut ein lustiges Erlebnis, mit Andreas den Saal zu betreten. Die anwesenden Mädchen wurden hektisch, ihre Hände bewegten sich schnell, während sie Kleidung zurechtrückten, Haare in Form brachten und Lipgloss auftrugen. Anfangs wurde es mir übel genommen, die Frau an seiner Seite zu sein, aber inzwischen war allgemein bekannt, dass unsere Beziehung rein platonisch war.
Als ich am Dienstag die Glastüren zum Kinobereich öffnete, stürmte mir ein kleines Mädchen entgegen und fragte aufgeregt, ob ich den aktuellen Kinderfilm schon gesehen hätte. Ich kniete mich neben es, um mit ihm auf gleicher Höhe zu sein, und erwiderte, dass der Film bisher allen Kindern gut gefallen habe. Ich stand auf und mein Blick fiel auf das gegenüberliegende Restaurant. Mein Herz stockte. Für einen Moment meinte ich, Michael dort an der Bar sitzen zu sehen, wurde dann aber durch den Vater des Mädchens und unnötige Fragen anderer Kunden abgelenkt. Als ich nach einer Weile wieder zur Bar blickte, konnte ich nur einen kleinen fetten Mann ausmachen.
Am folgenden Tag hatte ich ein Seminar im Techno-Z, einem schrecklichen Gebäude. Das Techno-Z war der Sitz der computerwissenschaftlichen Fakultät. Nach dem Seminar erzählte ich Astrid, einer Studienkollegin, mit der ich mich auch oft privat traf, von meinen Erlebnissen im Peris Night. Natürlich ließ ich all die merkwürdigen Begebenheiten und Eindrücke aus. Astrid und ich hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, donnerstags ins Hallenbad zu gehen und über dieses und jenes zu plaudern. Von meinen Berichten inspiriert schlug sie vor, diesen Donnerstag ausnahmsweise in den Europark zu fahren, um mir fürs Wochenende etwas Schickes zu kaufen. Als wir am nächsten Tag beim Europark ankamen, bemerkte ich, dass man von der zugehörigen Bushaltestelle direkt zum ›Peris Night‹ sehen konnte. Wen wundert es? Ich musste sofort an Michael denken. Auf die von außen nichtssagende Disco starrend verlor ich kurz jegliches Zeitgefühl. Erst als Astrid mich anstupste, wurde ich aus meiner Trance gerissen und wir betraten gemeinsam das Einkaufszentrum. In einem der Schaufenster erblickte ich ein wunderschönes, elegantes, dunkelgrünes Kleid. Obwohl mir klar war, dass ich mir dieses Schmuckstück nicht leisten konnte, probierte ich es an, wenn auch nur zum Spaß. Als ich mit dem Kleid aus der Kabine trat, sah ich Michael. Er stand vor dem Geschäft und betrachtete mich selbstbewusst. »Der Große dort«, flüsterte ich und lenkte Astrids Aufmerksamkeit in seine Richtung. Michael und ich hatten den Bruchteil einer Sekunde Blickkontakt, bevor Astrid fragte: »Wen meinst du? Da ist niemand.« Durch ihre Aussage aus der Bahn geworfen blickte ich sie verwirrt an. Als ich mich wieder Michael zuwenden wollte, war er verschwunden. Vielleicht hatte mir mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt. So oder so, ab diesem Moment hatte ich ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Des Öfteren wandte ich mich unvermittelt um, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Einmal hörte ich, wie ein Papierkorb in einem der Seitengänge umgestoßen wurde. Ich kehrte um und inspizierte den besagten Gang. Er war leer. Mein kleiner Kontrollgang machte Astrid misstrauisch, daher verzichtete ich auf weitere Exkursionen. Ich mochte Astrid und genoss ihre Gesellschaft. Am meisten schätzte ich ihre Ehrlichkeit.
An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen. Hatte ich wirklich Michael gesehen? Wurde ich verrückt oder war ich verrückt nach ihm? Außerdem sah ich dem kommenden Abend mit gemischten Gefühlen entgegen. Erstens wusste ich nicht, ob Michael tatsächlich anwesend sein würde, zweitens hatte ich bei der ganzen Sache immer noch ein seltsames Gefühl und drittens wollte ich Michael unbedingt sehen.

3. VERABREDUNG

Am späten Nachmittag des folgenden Tages holte ich Sarah vom Zug ab. Bis dato war mir nicht bekannt, was für den Abend geplant war, aber Sarah war so nett, mich einzuweihen. »Wir treffen uns mit den Männern beim Europark, um dort in einem neuen China- oder Thai Restaurant zu speisen. Anschließend steigt bei Michael eine kleine Party.« Obwohl ich mich im ersten Moment freute, da eine Party bei Michael nur schwer ohne Michael stattfinden konnte, war ich von der Vorstellung, mit diesen Männern, die ich kaum kannte, nach Hause zu gehen, nicht wirklich begeistert. Sarah hatte für meine Bedenken nur wenig Verständnis. »Wieso, mit 19 haben wir so etwas doch ständig gemacht, wo ist der Unterschied?«
»Na ja, damals hatten wir immerhin Thomas dabei.« Thomas war viele Jahre mein bester Kumpel gewesen, aber in letzter Zeit sahen wir uns nur noch selten.
Eines war klar, Sarah wollte auf diese Party, egal um welchen Preis. »Als ob Thomas fähig gewesen wäre, uns zu beschützen. Melanie, erinnere dich, er war doch immer nach kürzester Zeit betrunken und ist mit irgendwelchen Männern verschwunden.« Irgendwie hatte sie recht, dennoch fühlte ich mich bei dem Gedanken an die Party unwohl.
Wir hatten noch reichlich Zeit, um in meine Wohnung zu fahren und uns in Schale zu werfen - das hatte ich jedenfalls gedacht. Doch egal, was ich anzog, Sarah war unzufrieden mit mir. Nach langem Hin und Her resignierte ich und erlaubte ihr, mir die Kleidungswahl abzunehmen. Ich trug eine dünne blaue Bluse, sehr eng anliegende weiße Jeans, blaue High Heels und, da ich nicht meinen ›scheußlichen alten Wintermantel‹ anziehen durfte, einen dünnen Stoffmantel. Mein Outfit war für diese Jahreszeit viel zu kühl, besonders da Sarah die Meinung vertrat, ein Pullover wäre nur lästig und ich einer Diskussion mit ihr das Frieren vorzog. Sarah hatte ein wunderschönes rotes Kleid angezogen, sich die Haare gelockt und wesentlich mehr Schminke aufgetragen als ich.
Etwas zu spät, kurz nach acht, waren wir beim Europark, wo die anderen bereits auf uns warteten. Sie waren zu zehnt. Aus der Disco kannte ich bereits Michael, die Männer und Cornelia. Die Frau, die mit Stefan im Kino gewesen war, wurde mir als Birgit vorgestellt, und eine andere Dame, die ich nicht kannte, hieß Anastasia. Diese beiden Frauen und die Männer aus der Disco waren von einem Schlag: attraktiv, imposant und unheimlich.
Im Lokal setzte sich Philippe links neben mich und Michael rechts - das konnte ja lustig werden. Nachdem wir unsere Getränke und unser Essen bestellt hatten, waren wir bereits alle in Gespräche vertieft. Wenn sich so viele Leute treffen, bilden sich immer kleine Gruppen. So war es auch bei uns. Stefan hatte Michael und Philippe von meiner Arbeit im Kino erzählt. Sie wollten wissen, ob ich mir damit mein Studium finanziere. Ich hatte von meinen Großeltern ein wenig Geld geerbt und bekam zusätzlich ein kleines Stipendium. Damit deckte ich die meisten meiner Kosten. Um mir ab und zu etwas gönnen zu können und um mit dem Geld meiner Großeltern möglichst lange auszukommen, arbeitete ich zusätzlich einmal wöchentlich im Kino.
Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, besaß Michaels Vater eine Firma, die den unterschiedlichsten Dingen nachging. Die Disco Peris Night war Eigentum dieser Firma. Die Männer aus der Disco sowie Birgit und Anastasia waren ebenfalls in diesem Betrieb beschäftigt. Nach dieser Erkenntnis dachte ich mir schmunzelnd, ob vielleicht eine gewisse Ausstrahlung Teil des Firmenleitbildes sei.
Michael war ein aufmerksamer Beobachter. »Was ist so lustig daran, dass Philippe und die anderen in der Firma meiner Familie arbeiten?« Selbstbewusst lächelnd schüttelte ich den Kopf und wechselte das Thema.
Cornelia saß auf der anderen Seite des Tisches. Bis dato dachte ich, dass sie an Nicki, einem der Männer aus der Disco, interessiert war. Doch als sie ständig verzweifelt versuchte, Michaels Aufmerksamkeit zu erregen, war ich mir da nicht mehr so sicher. Als alle dezenten Versuche ihrerseits scheiterten, entschied sie sich für einen offensiveren Angriff. »Du hättest letzte Woche dabei sein sollen, es war total lustig. Melanie hat Michael und Philippe angeschrien, sie sollten nicht über ihre Freundin lästern. Dabei hatten die beiden kein einziges Wort gesagt. Sie taten mir beinahe leid. Du hättest ihre verwirrten Gesichter sehen sollen«, erzählte sie Birgit auf der ihr gegenüberliegenden Tischseite, damit sie jeder hören konnte. In Michael verknallt zu sein, war eine Sache, mich zu demütigen, um mich, die Konkurrentin, loszuwerden, eine andere. Ich beschloss, das Ganze mit Humor zu tragen, und setzte ein verlegenes Lausbubengesicht auf. »Geschrien habe ich nicht, vielleicht war ich etwas energisch.« Ich konnte jedoch nichts daran ändern, dass mir das Blut ins Gesicht schoss.
Michael sah mich wohlwollend an und legte den Arm um mich. »Stimmt, das war interessant.« Ab diesem Moment ignorierte er Cornelia gänzlich. Er antwortete nicht einmal auf direkt an ihn gerichtete Fragen. Was auch immer sie beabsichtigt hatte, ich bin mir sicher, das war nicht die Reaktion, auf die sie spekuliert hatte. Dank ihr wurde ich nun von Michael umarmt. Er nützte jede Gelegenheit, um mich im Gesicht zu streicheln oder meine Haare zu berühren. Als Sarah und ich zahlen wollten, hatte Michael die Rechnung bereits beglichen. Auf meinen Protestversuch hin sagte er nur: »Wir haben euch eingeladen, wir zahlen.«
Michael, Philippe, Alessandro, Sarah und ich verließen das Restaurant einige Zeit nach den anderen. Sarah und Alessandro verhielten sich wie ein Liebespaar. Eng umschlungen gehend küssten sie sich. Michael wohnte in der Nähe, daher waren sie zu Fuß gekommen. Wir bogen in eine Seitengasse. Ein plötzliches Kältegefühl überkam mich und stellte mir die Nackenhaare auf. Dafür war weder die Außentemperatur noch meine mangelnde Bekleidung verantwortlich. An dem von ihnen eingeschlagenen Weg war etwas faul. Sofort wich ich zurück, denn wenn ich auf eines vertraute, dann auf mein Gefühl, und bei diesem Weg hatte ich ein schlechtes Gefühl, ein wirklich schlechtes Gefühl. Ich schlug eine alternative Route vor. Diese war vielleicht ein wenig umständlicher, fühlte sich aber sicher an.
Es war ein kühler Abend. Michael war mein Zittern nicht entgangen. »Melanie, komm, sei nicht kindisch, du frierst bereits. Wir nehmen den kürzesten Weg.« Er nahm meine Hand und wollte seinen Weg fortsetzen, doch ich weigerte mich, auch nur einen Schritt zu tun. Sarah beobachtete mich. Sicherlich wollte sie nicht, dass man mich für noch verrückter hielt als ohnedies, außerdem las sie die Angst in meinem Gesicht. Sie war also um Schadensbegrenzung bemüht. »Meine Freundin mag zwar manchmal etwas verrückt wirken, aber wenn sie das Gefühl hat, dieser Weg ist gefährlich, dann habe ich gelernt, dass es besser ist, auf sie zu hören. Vor ein paar Jahren fuhren wir gemeinsam mit Freunden nach Berlin. Wir waren mit Thomas und seinem damaligen Geliebten im selben Auto. Zwei Freunde von Thomas folgten uns in einem grauen Golf GTI. Da Thomas mit seiner neuen Flamme auf der Rücksitzbank kuscheln wollte, saß Melanie hinterm Steuer. Plötzlich wollte sie scheinbar grundlos von der Autobahn abfahren. Sie rief sogar im anderen Auto an und versuchte Thomas‘ Freunde vom Verlassen der Autobahn zu überzeugen. Diese verweigerten den Umweg über die Landstraße. Da Melanie fuhr, verließen wir trotz der Proteste von Thomas und mir die Autobahn. Wir sollten uns mit den anderen an einer bestimmten Raststätte treffen, aber als wir dort ankamen, waren sie nicht da. Später hörten wir von einem Selbstmörder, der als Geisterfahrer unterwegs gewesen war und dabei einen Unfall verursacht hatte. Die beiden Freunde von Thomas waren dabei tragischerweise ums Leben gekommen. Der Selbstmörder überlebte.«
Die Männer waren von ihrer Geschichte nicht beeindruckt. Doch in Anbetracht der Tragik des Verlustes mehrerer Freunde wartete Michael eine angemessene Zeit, bevor er sprach: »Glaubt mir, auf dieser Strecke lauert nichts, mit dem wir drei nicht fertig würden«, sagte er und lachte laut. In seinem Lachen lag etwas Gefährliches. Dann drückte er mich an sich. »Keine Sorge, ich beschütze dich.«
Widerwillig und all meine Instinkte ignorierend folgte ich ihnen. Ich hasse das Gefühl, wenn einem klar ist, dass man dem Ärger entgegen rennt. »Bis jetzt gab es keine Probleme«, sagte Michael, nachdem wir eine Weile gegangen waren. Er hätte vielleicht nicht zu voreilig sein sollen.
»Ja, bis jetzt«, ertönte eine tiefe Stimme hinter uns, gefolgt von bösartigem Gelächter. Vor und hinter uns traten jeweils fünf düstere in Leder gekleidete Gestalten aus dem Schatten. Ihre Köpfe waren kahl geschoren. Jeder war mit einer Eisenstange oder einem Messer bewaffnet. Verängstigt machte ich einen Schritt zur Seite und sah Michael vorwurfsvoll an. Er war völlig unbeeindruckt. Verstand er nicht, dass wir in Gefahr waren?
Sarah stand starr vor Angst vor mir. Daher streckte ich meine Hand aus, fasste sie an der Schulter und zog sie zu mir. »Habe keine Angst«, flüsterte Alessandro der vor Furcht zitternden Sarah liebevoll ins Ohr und legte tröstend seine Arme um sie.
Michael lächelte furchtlos, gab mir einen schnellen Kuss auf den Mund und zwinkerte mir mit einem Auge zu. Dann passierte alles so rasch, dass ich dem Geschehen kaum folgen konnte. Was ich wahrnahm, war, dass unsere Begleiter die Initiative ergriffen. Die meisten Skinheads lagen nach ein paar Sekunden wimmernd auf dem Boden. Einer der Angreifer stürmte auf mich zu. Bevor er bei mir ankam, packte ihn Michael an der Schulter und warf ihn nach hinten. Ich muss zu Tode erschrocken gewirkt haben, was ich ohne Frage auch war. Michael suchte Blickkontakt mit mir und wollte mich durch ein aufheiterndes Lächeln und ein kurzes »Keine Angst« beruhigen. Der Effekt dieser Geste wurde zerstört, als ihm einer der Angreifer ein Messer in den Rücken rammte. Hätte ich gewusst wie, dann hätte ich geschrien. So blieb ich einfach regungslos stehen. Die einzige Auswirkung, die das Messer auf Michael zu haben schien, war, dass sich seine Laune sichtlich verschlechterte. Er drehte sich blitzschnell um, packte den Angreifer und dieser landete zehn Meter entfernt auf dem Boden. Der Kampf war gewonnen.
Philippe und Alessandro amüsierten sich köstlich. Sie lachten und lästerten: »Michael, hat dir der böse Mensch weh getan?« Sie fanden es wirklich unbeschreiblich komisch, dass Michael von einem gewöhnlichen Menschen verwundet worden war. Als wäre er kein Mensch - er war doch ein Mensch, oder?
Ich ging langsam zu ihm und streckte mich in die Höhe, um seine Schulter zu betrachten. Die Wunde war beinahe verheilt. Man konnte sehen, wo das Messer seine Haut durchstoßen hatte. Der Bereich um die Wunde war blutverschmiert und gerötet. Es musste sich um eine alte Verletzung handeln, also suchte ich seinen Rücken nach weiteren Wunden ab. Es gab keine. Erstaunt ging ich um ihn herum, blickte ihm in die Augen und fragte sanft: »Was bist du?«
Er hielt Augenkontakt mit mir, antwortete aber nicht, sondern streichelte mit der Handfläche zärtlich über meine Wange. Ich schüttelte den Kopf, um mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen, und betrachtete die jammernd auf dem Boden liegenden Männer. Wären Sarah und ich alleine gewesen, hätten wir diesen Abend gewiss nicht überlebt. Allmählich realisierte ich, was passiert war, meine Knie gaben nach und ich kauerte mit angezogenen Beinen auf der Straße. Einer der drei, keine Ahnung welcher, hob mich hoch. Peinlich berührt von meiner mädchenhaften Reaktion sah ich mich um. Sarah zitterte am ganzen Körper und Alessandro bemühte sich, sie zu beruhigen. Erst wenig später bemerkte ich, dass Michael behutsam auf mich einsprach: »Du brauchst keine Angst zu haben, wir sind in Sicherheit.«
»Ich weiß, ich habe keine Angst«, klang meine Stimme weit entfernt.
»Aha, warum schaust du so besorgt? Wir sind sicher.«
Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Skinheads vor uns. »Ich habe mich nur gerade gefragt, wie wir das der Polizei erklären sollen.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen!« Als wäre er es gewöhnt, Befehle zu erteilen, wandte er sich Alessandro zu und kommandierte: »Geh mit den Mädchen voraus! Wir erledigen den Rest. Philippe, du weißt, was zu tun ist.«
Alessandro hatte kein Problem damit, eine Anweisung von Michael zu befolgen. Ganz im Gegenteil, er nickte ihm ernst zu und führte uns vom Schauplatz des kleinen Dramas.
Plötzlich hatte ich eine Eingebung. »Werden sie die Männer töten?« Ich hatte gesprochen, ohne zu denken. Als die Worte meinen Mund verließen, wurde mir bewusst, wie gefährlich und hoffentlich auch absurd diese Frage war. Sie würden doch niemanden töten, oder doch? Alessandro überlegte kurz. Bevor er antwortete, bewegte er stumm seine Lippen. »Nein, sie werden sie nicht töten. Ich schätze, sie werden sie verzaubern und ihnen die Erinnerungen nehmen. Vielleicht rufen sie sogar die Rettung. Alles andere wäre unnötig und aufwendig.«
»Verzaubern, na klar, und danach überqueren wir einen Regenbogen.« Ich dachte, er würde jeden Moment zu lachen beginnen und erklären, dass er nur gescherzt hätte, aber er tat es nicht. Daher wurde ich neugierig: »Wenn ihr das tatsächlich könnt, wenn es Magie tatsächlich gibt, wäre es dann nicht geheim?«
»Ja, und weiter, Melanie, worauf willst du hinaus?«
»Warum, verrätst du es mir?«
»Weil wir dasselbe anschließend einfach mit euch machen werden.«
»Was, wenn ich vorher abhaue? Nicht, dass ich ein Problem damit habe, diese Erinnerung zu verlieren.«
»Glaub mir, diese Gefahr besteht nicht«, und er forderte mich mit einem Blick auf, es zu versuchen.
»Also hatte ich mit meinem ersten Eindruck doch recht.«
»Scheint so.«
Sarah ignorierte unser Gespräch gänzlich. Sie war in Alessandros Arme gekuschelt und genoss es. Wie konnte sie nur so ruhig bleiben? Ihr Verhalten verwirrte mich, was Alessandro nicht entging. »Sie kann uns nicht hören. Ich habe unsere Unterhaltung magisch getarnt. Sie würde sie nur noch mehr verschrecken. Wir können die Erinnerung nehmen, aber ein Gefühlsrest kann bleiben. Ich will doch, dass sie sich wohl fühlt und glücklich ist.« Vielleicht war Alessandro doch nicht so übel. Es lag ihm wirklich etwas an Sarah. Mein Seelenheil war ihm jedoch egal. »Hast du keine Angst, mich zu verängstigen?«, scherzte ich, obwohl ich dankbar für seine Antworten war.
»Das ist Michaels Problem.« Ich wusste nicht, was er mir sagen wollte und hatte auch keine Lust, es zu verstehen, daher wechselte ich das Thema. »Letzte Woche in der Disco dachten Michael und Philippe, ich würde sie nicht hören. Sie hatten ihr Gespräch getarnt, oder?«
»He, du bist intelligenter, als du aussiehst.« Ich warf ihm einen kurzen grimmigen Blick zu und wandte mich ab.
Was, wenn sie nicht in der Lage waren, mich zu verzaubern und mir die Erinnerung zu nehmen? Immerhin gelang es ihnen auch nicht, ihre Unterhaltungen vor mir zu tarnen. Zum Glück schienen die Männer von ihren Fähigkeiten überzeugt.
Michaels Haus war eigentlich etwas zu groß, um Haus genannt zu werden. Es handelte sich eher um eine Villa, umgeben von einem großen Garten. Ein solches Anwesen war in Salzburg praktisch unbezahlbar. Aufgrund der Dunkelheit konnte ich nur die Größe des Hauses und des Gartens ausmachen, nicht aber deren Strukturen. Es war mir egal, wie das Gebäude aussah, solange es drinnen warm war. Vor dem Haus stießen Michael und Philippe zu uns.
»Können wir nun endlich hinein gehen? Mir ist kalt!«, bettelte ich halb erfroren. Alessandro zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Ich glaube, wir sollten ihnen vorher noch die Erinnerungen nehmen.«
Michael nickte. »Stimmt, fang schon mal mit Sarah an. Ich würde gerne noch ein wenig mit Melanie plaudern«, sagte er und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Mir war kalt. Ich hatte nicht die geringste Lust, noch mehr zu frieren. »Können wir dazu ins Warme gehen?« Er öffnete seinen Mantel, umarmte mich und hielt die Mantelenden hinter meinem Rücken zusammen. Welch romantische Geste! Ich fühlte mich gleich viel wohler.
Alessandro hatte bereits begonnen, Sarahs Erinnerungen auszulöschen. Er stand vor ihr, murmelte und erklärte, auf dem Weg hierher sei nichts passiert. »Es ist nichts passiert«, wiederholte sie wie in Trance. Anschließend gingen sie, gefolgt von Philippe, ins Haus.
Michael war einen Kopf größer, als ich, obwohl ich nicht gerade klein war. Er blickte zu mir herab und ich zu ihm hinauf. »Woher wusstest du, dass uns diese Typen auflauern. Kanntest du sie?« Während er auf meine Antwort wartete, beobachtete er mich. Nicht die kleinste Bewegung meines Körpers entging ihm.
»Wie gesagt, ich hatte ein schlechtes Gefühl. Ich vertraue auf meine Instinkte, daher wollte ich einen anderen Weg einschlagen. Das ist alles. Besser kann ich es nicht beschreiben.«
Er sah durch mich hindurch, während er überlegte. »Du konntest letzte Woche in der Disco also jedes Wort verstehen?«
Ich hatte etwas vergessen, wie konnte ich das nur vergessen? Seine Frage beantwortete ich mit einem beiläufigen Ja, löste mich aus seiner Umarmung und ging um ihn herum, um seine Verletzung zu betrachten, doch sie war verschwunden. Ich wollte ihn fragen, wie das möglich sei, aber er wandte sich mir zu und begann zu murmeln. Er war gerade dabei, mich zu verzaubern. Als er mir erklärte, dass auf dem Weg zum Haus nichts Ungewöhnliches geschehen sei, wurde mir bewusst, dass es nicht funktionierte. Was würden sie mit mir machen, wenn sie erkannten, dass sie meine Erinnerung nicht manipulieren konnten. Bis jetzt hatten sie sich uns gegenüber nicht gewalttätig verhalten, aber da sie offensichtlich zur Gewalt fähig waren, wollte ich kein Risiko eingehen. Ich versuchte Sarahs Gesichtsausdruck und Stimmlage nachzuahmen, wobei ich mir ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte. »Es ist nichts Ungewöhnliches geschehen.«
Mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte er mich misstrauisch. Wenig später nickte er jedoch zufrieden. Er hatte die ganze Zeit über meine Hand gehalten. Steif vor Kälte folgte ich ihm ins Haus. Als er an einem der Tische einen Mann entdeckte, ließ er mich los und bat mich, ihn einen Moment mit seinem Freund Daniel alleine zu lassen. Daniel war unheimlich. Bei seinem Anblick hatte ich sofort das mentale Bild vor mir, wie er eine Frau beißt und ihr Blut trinkt. Ich und meine lebhafte Fantasie! Vielleicht hatte ich einfach ein Problem mit hübschen Menschen, denn auch er sah gut aus. Sein T-Shirt wurde von seiner Bauch- und Oberarmmuskulatur geformt und seine schwarzen Haare ließen sein ohnehin männliches Gesicht noch männlicher wirken. Andererseits wusste ich bereits, dass hier etwas nicht stimmte. Womöglich war es ratsam sich von ihm fernzuhalten. Daher kam ich Michaels Bitte nach und ließ sie alleine.
Ich hatte ohnedies vor Sarah zu suchen. Im Nachbarraum wurde ich fündig. Sarah war schon ein wenig zu angeheitert und unterhielt sich mit Alessandro, Birgit und Stefan. Ich stellte mich zu ihnen und betrachtete meine Umgebung. Was Einrichtungsgegenstände und ihre Preise betrifft, bin ich gewiss kein Experte, aber ich war mir sicher, die Ausstattung hier war sehr kostspielig. In diesem Raum gab es mindestens fünf Fenster mit verbreiterten und gepolsterten Fensterbänken. Die so entstandenen Liegeflächen wirkten einladend. Eine große Stereoanlage sorgte für Musik und auf einem Tisch standen jede Menge Getränke und Snacks. Ich war froh, dass diese Party wie eine ganz gewöhnliche Studentenfete aufgezogen war. Ich hatte befürchtet, dass sie einen Barkeeper oder dergleichen hätten.
»Ist ja wirklich noch ein interessanter Abend geworden, findest du nicht?«, flüsterte ich Sarah zu, als die anderen beschäftigt waren. Sie lächelte verrucht. »Der Abend ist noch nicht vorbei.« Typisch Sarah, ich musste lachen.
Stefan verließ uns und kam mit einem Tablett mit Gläsern voll Tequila zurück. Er reichte jedem einen. »Auf einen gelungenen Abend«, sagte er und wir hatten fast keine andere Wahl, als mit ihm zu trinken. Auch wenn Stefan eindeutig nicht an mir interessiert war, nötigte er mich, noch vier weitere Tequilas hinunterzukippen.
Es dauerte nicht lange, bis Alessandro und Sarah in einer dieser kleinen Schmuseecken verschwanden. Ich sprach noch eine Weile mit Philippe, Birgit und Stefan. Philippe schien seit der Disco jegliches Interesse an mir verloren zu haben, worüber ich froh war. Ich hatte auch schon im Restaurant Alkohol getrunken, also fühlte ich mich für meinen Geschmack etwas zu betrunken und lehnte jeden weiteren Alkohol konsequent ab. Die Partygäste hatten sich inzwischen in Paare aufgeteilt und waren entweder nach oben oder in einer dieser kleinen Nischen verschwunden. Nur Stefan und Birgit waren zu höflich, um mich alleine stehen zu lassen. Indem ich mich in eine dieser Ecken setzte, gab ich ihnen die Möglichkeit, ihrer Wege zu gehen. Mit meinem Oberkörper gegen die Wand gelehnt nickte ich ein.
Plötzlich strich etwas zärtlich über meine Wangen. Alarmiert durch die Geschehnisse des Abends, öffnete ich meine Augen. Nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, blickte ich in Michaels wohlwollendes Gesicht. Ein schelmisches Lächeln zuckte in seinen Lippen, bevor er sich mir langsam näherte. Bewegungsunfähig spürte ich seine warmen Lippen auf den meinen und gab mich seiner Zärtlichkeit hin. Überrascht von dem Gefühl, das er in mir auslöste, spürte ich, wie mein Körper sich an seinen drängte. Meine Arme, die mir nicht mehr gehorchten, glitten wie von selbst um seinen Hals. Seine Hände berührten mit leichtem Druck meine Brüste und Gänsehaut überzog meinen Körper. In seinem Blick loderte Verlangen und ich befürchtete, ich könnte ihm nicht widerstehen. Ermutigt durch die Reaktion meiner Hüften, die sich hemmungslos an ihn pressten, öffnete er den Knopf meiner Hose. In diesem Moment fasste ich zum ersten Mal einen klaren Gedanken. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mit ihm zu schlafen. Nicht nach allem, was geschehen war. Schon gar nicht in einem Raum voller Leute. Obwohl es mehr Selbstbeherrschung benötigte, als ich zu haben glaubte, entfernte ich sanft, aber bestimmt seine Hand und knöpfte meine Hose zu. Aus Angst, meine Leidenschaft könnte mich erneut übermannen, löste ich mich von ihm und sah hilfesuchend auf meine Uhr. Es war zwanzig vor drei. Wenn wir in dieser Nacht noch nach Hause wollten, mussten wir uns beeilen, um den letzten Bus zu erwischen. Ich sah, wie Sarah und ihr Verehrer gerade über die Treppe nach oben in ein Zimmer gehen wollten. Ich drehte Michael meinen Rücken zu, um ihr nachzurufen: »Sarah, wenn wir noch nach Hause wollen, müssen wir jetzt los!«
»Ich schlafe heute Nacht hier!« Sie kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Ich vögle heute noch mit Alessandro.« Sarah war, was Sex betrifft, relativ locker, aber so schnell stieg sie nur selten mit jemandem ins Bett, und wenn, bereute sie es zumeist am nächsten Tag. »Bist du dir sicher, so betrunken, wie du bist?«, fragte ich sie. Sie sah mich entnervt an. »Klar, hab ich doch gesagt. Ich weiß schon, was ich tue.«
Michaels Arme wanderten von hinten um meine Taille und zogen mich sanft zu sich zurück. Wie von einer Feder berührt, spürte ich seinen Mund an meinem Ohr. »Sie ist erwachsen, lass sie doch.« Als würde er den Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft in meinem Inneren erahnen, drehte er mich zärtlich zu sich und küsste jeden Verstand aus meinem Kopf. Es gefiel mir, als seine Hände unter meiner Bluse verschwanden und meine Brüste verwöhnten. Ich saß auf seinem Schoß und als ich durch seine Jeans spürte, dass ihm gefiel, was er berührte, waren alle guten Vorsätze vergessen. In einem letzten Versuch wieder Herr meiner selbst zu werden, drückte ich mich von ihm weg. »Mein letzter Bus fährt in ein paar Minuten. Ich muss jetzt wirklich los!« Es war meine einzige Chance ihm zu entkommen, bevor mein Körper mich gänzlich verraten würde. Er sah mich mit einem liebevollen Lächeln an. »Schlaf doch einfach hier.« Ich atmete schwer aus und wollte bereits sprechen, als er anmerkte: »Du bekommst auch ein eigenes Schlafzimmer, für dich alleine, wenn du das willst«. Wie von selbst zauberte sich ein Lächeln auf meine Lippen. »Na eben, dann kannst du hierbleiben und alles ist in Ordnung«, fuhr er mit zärtlicher, aber auch triumphierender Stimme fort und küsste mich erneut. Wäre da nicht mein Unterbewusstsein gewesen, hätte mich nichts in der Welt von ihm lösen können. Doch die Gefahr, die sich wie ein Eisblock auf meinem Rücken anfühlte, riss mich in die Gegenwart zurück. Ich drückte mich erneut von ihm weg. Er wollte zu sprechen beginnen, doch ich legte ihm meine Finger auf den Mund. »Irgendetwas stimmt nicht!«
Er sah mich prüfend an. »Hast du wieder so ein Gefühl?«
Sein Körper war sofort in voller Alarmbereitschaft. Diesmal nahm er mich ernst. Ich hatte nicht bemerkt, dass wir inzwischen alleine in dem großen Raum waren. Ich hörte, wie jemand auf Glasscherben trat. Sekunden später stand eine furchteinflößende Gestalt vor uns und schleuderte Michael durch den Raum. Der Eindringling bewegte sich so schnell, dass es mir fast nicht möglich war, ihm mit den Augen zu folgen. Dasselbe galt auch für Michael. Wie zwei zähnefletschende Hunde knurrten sie sich an. Auch aus den anderen Zimmern war Kampfeslärm zu hören. Der Angreifer katapultierte Michael gegen die Wand und Michael sackte zu Boden. Mein Blick haftete panisch auf dem Messer, das der Eindringling in der Hand hielt. Er hatte eine Platzwunde an der Lippe und seine Mimik verriet, dass er mit der Absicht zu töten kämpfte. Mein Blick wanderte von Michael zu seinem Widersacher. Hektisch schnappte ich mir einen herumstehenden Stuhl und zerschmetterte diesen auf des Angreifers Rücken. Ich schien ihn nicht verwundet zu haben, aber ich erregte seine Aufmerksamkeit. Er schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht und ich wurde ans gegenüberliegende Ende des Raumes geschleudert. Als ich wieder zu mir kam, hatte Michael eines der zersplitterten Beine meiner vorherigen Waffe in der Hand. Er machte eine dieser übermenschlich schnellen Bewegungen und das spitze Ende des Holzstückes hatte sich von vorne durch den Oberkörper des Gegners gebohrt. Michael hatte sein Herz durchstoßen. Sarah kam zur selben Zeit von oben über die Treppe geeilt, als Daniel, gejagt von zwei Eindringlingen, aus dem Nachbarraum zu uns flüchtete. Einer der Angreifer war schwer verletzt. Er hatte eine klaffende Wunde am Bauch und eine ebenso gravierende Verletzung an der Schulter. Er stürmte auf Sarah zu und biss ihr in den Hals. Sarah begann sofort aus Leibeskräften zu schreien. Währenddessen waren Daniel und Michael mit dem anderen Eindringling beschäftigt. »Er ist verzaubert, wenn möglich, töte ihn nicht!«, schrie Daniel.
Lange stand ich wie versteinert da und beobachtete, wie der Unbekannte Sarahs Blut trank. Es war eine Szene, die einem Horrorfilm gerecht geworden wäre. Er hatte Sarah mit seinem Griff fixiert. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ich stürmte auf ihn los und versuchte mit aller Kraft, ihn von ihr zu lösen. Er machte eine Handbewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen, dabei traf er mich an der Schulter und ich knallte auf meinen Hintern. Ich hastete erneut auf ihn zu, diesmal von vorne und warf mich gegen ihn. Meine Hände landeten auf seinen Schultern. Ich hatte ihn überrascht. Er schwankte kurz, entfernte seinen Mund von Sarahs Hals und sah mir direkt in die Augen. Zum Denken war keine Zeit, daher folgte ich meinem Instinkt. Während seine Augen auf meine gerichtet waren, brüllte ich: »Es reicht, wach auf!« Ich war mir sicher, dass ich in ein paar Sekunden tot sein würde. Er blinzelte mehrmals und sah mich verwirrt an. Dann packte er mich an den Oberarmen und setzte mich auf den Boden. Er trat einen Schritt zurück, analysierte die Situation im Raum und rannte Daniel und Michael zu Hilfe. Ich kroch zu meiner Freundin. Sarah bewegte sich nicht mehr. An ihrem Hals war ein blutiger Gebissabdruck mit zwei tiefen Löchern an der Position der Eckzähne zu sehen. Die zwei tiefen zylinderförmigen Wunden hatten bereits zu bluten aufgehört. Ratlos und verzweifelt schrie ich um Hilfe. »Sarah, bitte, wach auf, komm schon Mädchen, mach die Augen auf!«, flehte ich sie an. Daniel kniete sich neben mich und musterte sie gleichgültig. »Sie sollte überleben.«
Inzwischen lag der zweite Angreifer mit Ketten gefesselt auf dem Boden. Ich erhob mich schwankend. »Also existieren Vampire? Scheiße noch mal!« Hilflos und verängstigt starrte ich in die Runde. Michael machte einen betont langsamen Schritt auf mich zu. Überfordert wich ich zurück. Er hob die Hände in einer Friedensgeste und machte einen bedachten Schritt nach dem anderen in meine Richtung. Dann breitete er die Arme aus und legte sie tröstend um mich. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein ganzer Körper zitterte und mein Gesicht schrecklich schmerzte.
Die Männer unterhielten sich. Ich hörte Daniel: »Bruder, als ich dich gestern sah, warst du noch Herr deiner selbst und nun standest du unter einem Bann. Was ist geschehen und wie hast du den Zauber gebrochen?«
»Keine Ahnung, wie es dazu kam. Den Zauber gebrochen? Ich glaube, das war sie«, sagte er und zeigte auf mich. Na toll, spätestens jetzt war ich in Schwierigkeiten. Mittlerweile waren auch Philippe, Alessandro und Stefan im Raum angelangt. Sie alle starrten mich entgeistert an. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Stefan.
Michael sah mich im Gegensatz zu den anderen nicht misstrauisch und neugierig, sondern besorgt und unglücklich an. Der Schmerz in meiner Wange trieb mir Tränen in die Augen und machte jedes Wort zur Qual. »Ich weiß es nicht.«
»Was hast du getan, um den Zauber zu brechen?« Diesmal hatte Daniel gesprochen.
»Es ist nicht einmal sicher, dass ich den Zauber gebrochen habe. Ich hatte Angst um das Leben meiner Freundin und versuchte ihn von ihr zu zerren.« Ich sah verlegen nach unten. »Aber das hat nicht viel gebracht.« Damit hatte ich ihnen nichts verraten, was sie zu verwundern schien.
Sarah! Ich hatte Sarah vergessen. »Ruft bitte einen Notarzt für sie!«, flehte ich panisch. Warum hatte ich mich nicht als Erstes um Hilfe gekümmert? Ich war ja eine schöne Freundin! Daniel sah mich wütend an und zeigte auf den Mann, der gefesselt auf dem Boden lag. »Hilf meinem Freund, oder deine Freundin stirbt!« Diese Drohung meinte er ernst.
An diesem Tag wurde mein gesamtes Weltbild zerstört. Es gab Vampire, Zauberei und man erwartete, dass ich einen Bann neutralisiere. Spätestens jetzt war ich außer mir vor Angst. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Das Einzige an mir, das nicht erstarrte, waren meine Tränen. Michael stellte sich zwischen mich und den Vampir.
»Danke, Daniel, das war sehr hilfreich. Wenn sie sich vor Angst nicht mehr bewegen kann, ist sie sicher eine große Hilfe«, sagte der Unbekannte, den Daniel Bruder genannt hatte und dessen Wunden inzwischen vollständig verheilt waren, sarkastisch. Danach legte er tröstend eine Hand auf meine Schulter. Ich hatte gerade mit angesehen, wie er meine Freundin beinahe getötet hätte, glaubte er wirklich, er könnte mich beruhigen? Ich wich, soweit es mir in Michaels Armen möglich war, zurück. Michael musterte ihn prüfend. »Sie gehört mir«, knurrte er warnend.
Der Vampir ließ sich durch ihn nicht beirren. »Mach dasselbe wie zuvor und ich werde dafür sorgen, dass niemand deine Freundin anfasst«, versprach er sanft. Ich nickte und ging zu dem Mann, der unentwegt mit seinen Fesseln rang. Als ich mich neben ihn niederkniete, befreite er seine Hand und packte mich am Unterarm. Ich hörte das Knacken, bevor ich den Schmerz spürte und laut aufschrie. Daniels Bruder löste die Hand des Gefesselten von mir. Überwältigt vom Schmerz taumelte ich zurück. Ich brauchte einige Zeit, um mich wieder zu fangen. Ohne dazu aufgefordert zu werden, ging ich erneut zu dem auf dem Boden liegenden Mann, der nun zusätzlich von Daniel gehalten wurde. Der Schmerz machte mich wütend, aber nicht auf den vor mir Liegenden, sondern auf jene, die ihn kontrollierten. Sie waren auch für Sarahs Verletzungen verantwortlich. Ich legte meinen gesunden Arm auf seine Schulter, sah ihm selbstbewusst in die Augen und stellte mir vor, die ihn umgebende Magie zu zerschlagen. Er zwinkerte und sah mich fragend an. »Was…?«
Mein verletztes Gesicht und mein gebrochener Arm pochten vor Schmerz und ein schwarzer Schleier legte sich über meine Augen.

4. VERWIRRUNG

Desorientiert erwachte ich in einem nach Lavendel duftenden Bett. Durch die orangefarbenen Vorhänge trat gedämpftes Tageslicht ein und gab die Konturen des Raumes preis. Meine Hand war eingegipst, mein Gesicht tat weh und ich trug einen blauen Herrenpyjama. Auf der Suche nach etwas Vertrautem drehte ich den Kopf zur Seite und erkannte, dass Michael neben mir schlief. Ich brauchte einige Zeit mich zu orientieren und die Ereignisse der vergangenen Nacht zu verarbeiten. Panik überkam mich, ich wollte mit all dem hier nichts zu tun haben. So leise wie möglich erhob ich mich aus dem Bett und schlich zur Tür. Als ich nach dem Türknauf griff, stand Michael plötzlich vor mir und beäugte mich misstrauisch. »Wo willst du denn hin?«
»Ich wollte Sarah suchen.«
»Und mit ihr verschwinden?« Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, genau das war mein Plan gewesen. Daher blickte ich verlegen in seine schönen blauen Augen.
»Melanie, Sarah ruft dich nächste Woche an, sie ist schon weg.«
»Wie spät ist es, warum hat sie nicht auf mich gewartet?«
Er zuckte mit den Achseln. »Das soll sie dir selbst erklären.«
Ich zeigte auf den Pyjama, der mir offensichtlich angezogen worden war. Er grinste wie ein Kind, das bei etwas Unanständigem erwischt wurde und drückte mir einen Stapel Kleidung in die Hand. »Deine Sachen waren durch die Unannehmlichkeiten des gestrigen Abends zerrissen und blutverschmiert. Das hier steht dir sicher viel besser.« Es handelte sich um eine leicht durchsichtige Seidenbluse und einen dazu passenden Rock. »Danke, ich gehe jetzt nach Hause, natürlich verliere ich kein Wort über die Geschehnisse und versuche den gestrigen Abend zu vergessen.« Er zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Es würde dir sowieso niemand glauben.« Wo er recht hatte, hatte er recht. »Also, wenn wir uns da einig sind, wo liegt dann das Problem?«, fragte ich mit herausfordernder Miene, da er den Weg zur Tür nicht freigab.
Er sah mich gespielt erwartungsvoll an. »Willst du mich nicht wiedersehen?«
»Oh«, senkte ich verlegen den Kopf. »Deine Gesellschaft scheint etwas zu gefährlich für mich zu sein. Also nichts für ungut, aber ich werde jetzt abhauen.« Ich machte einen Schritt nach links, ohne ihn anzusehen, aber er ließ mich nicht vorbei und lachte. Ich blickte ihm ins Gesicht. Es war, als hätte er sich bisher bemüht, harmlos zu erscheinen. Zum ersten Mal sah er wirklich furchterregend aus. Ich zuckte zusammen und entfernte mich instinktiv ein paar Schritte von ihm. Wenn ich bis jetzt nicht verstanden hatte, wie viel Ärger ich mir eingehandelt hatte, dann war es mir in diesem Augenblick klar geworden. Ich versuchte meine Stimme zu kontrollieren, als ich fragte: »Ich bin in mehr Schwierigkeiten, als ich annehme?« Er nickte. Ich hatte es satt, ständig um den heißen Brei herumzureden. »Wenn du mich umbringen willst, dann bringe es endlich hinter dich.« Mir war bewusst, dass ich gegen ihn nichts ausrichten konnte, aber ich hatte meinen Stolz. Ich griff mit meiner gesunden Hand nach einem Stuhl und machte mich kampfbereit. Kopfschüttelnd entriss er mir meine Waffe. »Herrlich, wie ein Kätzchen, das sich einem ausgewachsenen Tiger entgegenstellt. Süß, willst du mich jetzt beißen?«
Es reichte, meine Geduld war am Ende, mein Temperament gewann die Oberhand. Ich ging an ihm vorbei und als ich meine Hand in Richtung Tür ausstreckte, war er plötzlich vor mir, umarmte mich und fesselte meine Arme mit seinen an meinen Körper. Ich schrie, begann mit aller Kraft um mich zu treten, wand mich hin und her, doch ich erreichte nichts, rein gar nichts. Er hielt mich mühelos fest und als ich mich beruhigt hatte, küsste er mich. »Du bist entzückend«, sagte er danach. Atemlos löste ich mich von ihm. »Könntest du mir jetzt endlich verraten, was du von mir willst, oder hast du vor, den ganzen Tag mit mir zu spielen.«
Er lächelte herausfordernd. »Eine verlockende Idee.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Hätte ich dich tot sehen wollen, wärst du es bereits und ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, dich zu verarzten.« Zugegeben, dieser Punkt ging an ihn.
»Du hast gestern etwas vollbracht, was selbst in unserer Welt ungewöhnlich ist.« Wovon sprach er nun schon wieder? Ich blickte ihn verwirrt und ahnungslos an. »Redest du von dem Vorfall mit den Vampiren? Das war sicher nur Glück.« Er beobachtete mich genau, verfolgte jede meiner Bewegungen, als versuchte er ihnen ein Geheimnis zu entreißen. Ich hatte ein paar Fragen, auf die ich eine Antwort wollte. »Daniel und die Angreifer sind Vampire. Jedoch du, Alessandro, Philippe und deine anderen Freunde aus der Disco, ihr seid keine Vampire, aber auch keine Menschen?« Er sah mich an und nickte, also fuhr ich fort: »Was seid ihr und wer hat diese Vampire verhext? Wieso will euch jemand töten und warum lässt du mich nicht einfach nach Hause gehen, all das vergessen und mein Leben fortführen?« Er überlegte lange, bevor er antwortete: »Deine Gabe ist eine Seltenheit. Da die übernatürliche Welt nun aber weiß, was du kannst, gibt es kein Zurück mehr. Jeder, der von dir erfährt, wird versuchen dich zu besitzen und glaube mir, es ist am besten für dich, wenn ich es bin.«
»Falls du vorhast, mich hier festzuhalten, ich bin sehr stur und würde alles tun, um dir nicht zu helfen.« Er sah mich verdutzt an. »Woher kommen all diese Vorurteile? Ich schlage dir folgenden Deal vor. Wir gestatten dir, dein Leben normal weiterzuführen, und dafür kommst du, wenn wir deine Hilfe brauchen. Nur die Vampire und wir kennen deine Identität, solange es so bleibt, solltest du sicher sein.« ›Gestatten‹ hochnäsiger ging es nicht.
Ich hatte eine Vermutung. »Sarah hat euch also alles, was sie über mich weiß, verraten?«
»Natürlich, sie hatte keine andere Wahl. Sie hat uns ausführlich erzählt, dass du schon immer ein Gespür für Gefahren hattest und dass du oft für merkwürdig gehalten wirst.«
»Wenn nur ihr und Daniels Leute wissen, wer ich bin, stellt die restliche übernatürliche Welt doch keine Bedrohung dar. Ich war in meiner Welt ohne Magie und all das Zeug glücklich. Könntet ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Ich sah ihn hoffnungsvoll an.
»Das glaube ich nicht«, antwortete er schlicht, mit entschlossener Miene und hochgezogenen Augenbrauen. Entmutigt warf ich meine Hände in die Höhe und zuckte wegen des aus dieser Bewegung resultierenden Schmerzes in meinem Arm zusammen. Als Michael mit der Stimme eines Gentleman fragte: »Wenn deine Verletzungen verheilt sind, würdest du mir dann die Ehre erweisen, mit mir auszugehen?«, warf er mich endgültig aus der Bahn. »Du hast mich soeben bedroht, entschieden, ab jetzt mein Leben zu kontrollieren, meine Frage, was ihr seid, ignoriert und nun bittest du mich, mit dir auszugehen?« Er betrachtete mich amüsiert. »Du bist erschöpft und überfordert, wir sprechen weiter, wenn du ein paar Tage Zeit gehabt hast, dich zu erholen.« Ein Blick in sein Gesicht verriet, unser Gespräch war beendet.
Ich fasste nach dem Türgriff, woraufhin er zu lachen begann. »Im Pyjama fällst du auf der Straße garantiert auf.« Dann verließ er das Zimmer. Ich kleidete mich an, ging die Treppe hinunter und durch die Räume zur Ausgangstür, wo er, gegen den Türstock gelehnt, auf mich wartete und mir lässig eine zwischen Zeige- und Ringfinger eingeklemmte Visitenkarte entgegenstreckte. »Wenn du in Schwierigkeiten kommst oder etwas Seltsames passiert, auf der Karte steht meine Nummer.«
»Bis ich euch kennengelernt habe, war ich noch nie in Schwierigkeiten«, erwiderte ich frustriert, während ich die Visitenkarte in meine Tasche steckte.
Auf meinem Weg durch den Garten zur Straße blickte ich weder nach links noch nach rechts. Eine halbe Stunde später war ich in meiner Wohnung, sackte auf mein Bett und blieb regungslos liegen. Als ich mir mit der Hand die Müdigkeit aus dem Gesicht wischen wollte, zuckte ich vor Schmerz zusammen. Ich ging zum Spiegel und - oh, du heilige Scheiße! Meine gesamte linke Gesichtshälfte war grün und blau. Wie sollte ich das erklären?
Ich duschte mich und zog mir etwas Frisches an, was mit Gips eine Herausforderung war. Die fremde Kleidung warf ich in die Waschmaschine und da ich seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, ging ich zum Kühlschrank und wärmte mir die restlichen Nudeln vom Vortag auf. Am Sonntag erledigte ich meine verbliebenen Aufgaben und ruhte mich aus. Gegen Abend versuchte ich Sarah anzurufen, aber sie ging nicht ans Telefon, was für sie nichts Außergewöhnliches war.
Am nächsten Morgen stand ich um sieben Uhr auf. Nach einem missglückten Versuch meine blauen Flecken zu überschminken, machte ich mich auf den Weg zur Uni. Andreas wartete bereits in unserer Lernecke auf mich. Ich hatte unterwegs nicht mehr an meine blauen Flecken gedacht. Andreas starrte mich schockiert, mit halbgeöffnetem Mund an. Seine Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht rot vor Wut eilte er zu mir. »Wer war das? Den bringe ich um!«
Ich hatte vergessen, mir eine Ausrede für meine Verletzungen zurechtzulegen. »Reg dich nicht auf. Ich bin in einen Türstock gelaufen«, log ich frech.
»Und wie heißt der Türstock? Der blaue Fleck in deinem Gesicht sieht doch nicht zufällig wie der Abdruck eines Handrückens aus. Oh Scheiße! Er hat dir ja auch noch den Arm gebrochen.« Leugnen schien zwecklos. »Bitte frag nicht weiter, ich will nicht darüber sprechen!«
»Ich wusste nicht, dass du einen Freund hast. Aber wenn er dir so etwas antut, dann musst du ihn anzeigen und, um Himmels willen, beende die Beziehung«, sagte er unbeirrt und energisch.
»Es war nicht mein Freund, ich habe keinen. Ich habe dir sicher schon von Sarah erzählt. Als wir am Freitag aus waren, verletzte sie jemand am Hals. Ich ging von hinten auf ihn los, um ihr zu helfen. Er schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Daraufhin fiel ich zu Boden und sein Kumpel brach mir den Arm.« Was nicht wirklich gelogen war. Er wartete, also fuhr ich fort: »Aber ein paar nette Jungs haben uns geholfen. Wie war dein Freitag?« Vielleicht erlaubte er mir ja das Thema zu wechseln.
»Ehrlich gesagt habe ich mir von dir einen kreativeren Themenwechsel erwartet. Eigentlich sollte ich darauf nicht eingehen, aber nun gut, wie du willst. Wir hatten am Freitag zwischen drei und vier Uhr morgens einen Notfall in der Firma meines Vaters. Deshalb war ich am Samstag und am Sonntag völlig erledigt.« Mir war klar, worauf er hinaus wollte, daher griff ich ihm unter die Arme. »Also hast du die Übungen nicht gemacht? Wenn wir nicht länger über meine Verletzungen reden, bekommen wir das sicher noch hin.« Die Zeit war knapp, also änderten wir einfach meine Lösungen derart ab, dass es keiner merken würde.
Auf dem Nachhauseweg machte ich noch einen Umweg, um einzukaufen, dabei fiel mir gegenüber dem Supermarkt plötzlich ein prächtiges Gebäude auf. Ich konnte gar nicht verstehen, warum ich dieses Bauwerk noch nie bemerkt hatte. Es war eine wunderschöne Villa mit einem gepflegten Garten. Das letzte Mal, als ich mir die Gegend bewusst angesehen hatte, stand auf diesem Grundstück doch noch ein unbewohntes, verfallenes Haus. Es ist einem gar nicht klar, wie blind man durchs Leben geht.
Zu Hause angekommen wartete ich auf Sarahs Anruf, aber er kam nicht. Am späten Abend nahm ich das Telefon zur Hand und wählte ihre Nummer. Sie antwortete beim ersten Läuten. Angeblich hätte sie mich soeben anrufen wollen. Sie schwärmte unentwegt, wie toll der Abend gewesen sei. Während des Telefonats fiel mir auf, dass ich vergessen hatte Michael zu fragen, welche Erinnerungen sie Sarah gegeben hatten. Also sagte ich laufend und auf viele verschiedene Arten, dass ich bereits sehr betrunken gewesen sei und mich an nichts mehr erinnern könne. Sie beteuerte, wie leid es ihr tue, dass ich am Ende der Nacht die Treppe hinunter gefallen sei, und verfluchte das Frettchen, das sie am Hals gebissen habe. Mit einem »das müssen wir wiederholen« verabschiedete sie sich und das Gespräch war zum Glück beendet.
Zwei Tage später waren meine Gesichtsverletzungen verheilt. Ich hatte schon immer eine überdurchschnittlich gute Wundheilung, doch eine derart rasante Genesung war unheimlich. Mein Arm fühlte sich gesund an und ich war mir sicher, dass der Gips, ein ständiges Hindernis, mittlerweile unnötig war. Vermutlich hatten Michael und die anderen die Heilung meiner Wunden irgendwie magisch beschleunigt.
Ich machte mich also am nächsten Morgen auf den Weg ins Krankenhaus, um meinen Arm röntgen zu lassen. Meine Lüge, mein Arm fühle sich taub an, bewog die Ärzte schnell zu einem Kontrollröntgen. Laut Arzt hätte der Gips, nach Status meines Bruches, schon vor einiger Zeit entfernt werden müssen. Er war überzeugt, ohne Gips würde das taube Gefühl bald wieder verschwinden. Außerdem war er der Meinung, dass Patienten wie ich ihm und seinen Kollegen das Leben unnötig schwer machten. Denn hätte ich mich an die ärztlichen Anweisungen gehalten und wäre termingerecht erschienen, wäre es bei einer ohnehin überfüllten Ambulanz nicht nötig, auch noch zusätzlich Patienten, wie mich, einzuschieben.
Wieder in meiner Wohnung fiel mein Blick auf das Gewand, das mir Michael für den Nachhauseweg geliehen hatte. Es war mir ein ständiger Dorn im Auge. Daher entschloss ich mich, es noch am selben Tag zurückzubringen. Natürlich nicht, um Michael zu sehen, sondern um das vorherige Wochenende endgültig abzuschließen. Auf jeden Fall versuchte ich, mir das einzureden. Sich selbst derart zu belügen war nicht einfach. Immerhin musste ich laufend an Michael denken. Mir weiszumachen, ich hätte keine Hintergedanken bei dieser Aktion, war harte Arbeit.
Bei Michaels Villa angekommen suchte ich den Briefkasten. Ich hatte mir vorgenommen die Kleidung darin zu hinterlegen, denn so gab es keinen Grund das Haus zu betreten oder seine Bewohner zu belästigen. Ein guter Plan, vorausgesetzt, es gäbe einen Briefkasten. Was nun? Wäre es eine gute Idee, zu läuten? Einfach umzukehren und wieder zu verschwinden wäre kindisch und, sollte mich jemand beobachten, auch peinlich. Nicht nur der Briefkasten fehlte, es gab auch keine Klingel. Ich fasste mir ein Herz und öffnete vorsichtig die Tür. »Hallo, jemand zu Hause? Ich wollte nur die Kleidung zurückbringen!«
Ich hatte geplant, in meinen schäbigsten Klamotten und minimal geschminkt zu erscheinen. Niemand sollte glauben, ich würde mich bemühen gut auszusehen. Wie mir auffiel, hatte ich mich selbst hintergangen. Michael stand in übernatürlicher Geschwindigkeit vor mir, seine Augen weiteten sich und er betrachtete mich verführerisch. »Sieh dich nur an, du siehst umwerfend aus! Bist du gekommen, weil du mich vermisst hast?«
Ich ignorierte seinen Flirtversuch. »Nein, ich wollte dir nur die Kleidung zurückbringen.«
Er machte eine gespielt beleidigte Geste, denn in Wirklichkeit schien er sich köstlich zu amüsieren. »Ich würde dich ja gerne herein bitten, aber der Zeitpunkt ist etwas ungünstig.« Er begann langsam die Tür zu schließen. Ich wollte gehen, also wandte ich mich in Richtung Straße und sagte: »Du hättest mir sagen sollen, dass ihr meine Wunden irgendwie verzaubert habt«.
Überrascht und alarmiert griff er nach meinem Unterarm. »Was meinst du damit, was ist passiert?«
»Ich heile normalerweise schnell, aber nicht einmal bei mir wächst ein gebrochener Arm in weniger als sechs Tagen zusammen. Sieh dir mein Gesicht an, es ist keine Spur einer Verletzung zu sehen, also dachte ich ...«
»Wie faszinierend! Sind dir noch andere Veränderungen aufgefallen?« Die Faszination war ihm ins Gesicht geschrieben und mir die Panik. »Veränderungen? Welche Veränderungen sollte ich denn erwarten? Ich will mich nicht verändern! Was habt ihr mit mir gemacht?«
Er hörte etwas hinter sich, drehte sich dem Geräusch zu, sagte »Ich muss los« und schlug mir die Tür sprichwörtlich in Windeseile ins Gesicht. Ich stand noch länger bewegungslos da und starrte ein Loch in das geschlossene Tor. Perplex resignierte ich und machte mich auf den Heimweg. Durch die Straßen huschend überprüfte ich in jeder spiegelnden Scheibe, ob mir bereits Hörner, Flügel oder ein Schwanz gewachsen waren. Im Bus nahm eine Studienkollegin neben mir Platz. »Hallo, wie geht es dir? Du siehst verändert aus, wirklich ausgesprochen hübsch«, begrüßte sie mich.
»Ich habe mich nicht verändert. Ich sehe aus wie immer!« Mit diesen Worten, die ich energisch und zu laut sagte, bewegte ich mich ruckartig in ihre Richtung. Hektisch tastete ich mein Gesicht und meinen Hinterkopf ab, um zu kontrollieren, ob alles noch an Ort und Stelle war. Sie wich zurück und sah mich zu Recht an, als wäre ich verrückt geworden. »Ich wollte dir nur ein Kompliment machen«, beschwichtigte sie mich vorsichtig, doch alarmiert. Da wurde mir bewusst, wie ich wirkte. Ich lehnte mich langsam wieder gegen die Sitzlehne und legte die Hände auf meine Oberschenkel. »Hast du das neue Gebäude gegenüber vom Billa gesehen? Mir ist es erst vor ein paar Tagen aufgefallen«, fragte ich beiläufig, als wäre nichts gewesen.
»Meinst du den Billa parallel zur Alpenstraße?«
Ich nickte. Sie war durch mein Verhalten noch immer verunsichert und auf der Hut. »Ich wollte am Nachhauseweg ohnehin dort noch schnell etwas besorgen. Ich werde es gleich begutachten«, erwiderte sie verhalten.
Da wir beide noch etwas aus dem Lebensmittelladen brauchten und sie nach ein wenig Smalltalk den peinlichen Vorfall vergessen hatte, begaben wir uns gemeinsam auf den Weg. Ich zeigte ihr das neue Gebäude. Endgültig verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie wich einen Schritt zurück. »Das ist doch dieselbe alte, verfallene Ruine wie eh und je. Was ist heute nur mit dir los?« Verblüfft wollte ich mögliche Missverständnisse ausschließen. »Wir sprechen von dem gelben Haus direkt vor uns, oder?«
»Ich sehe kein gelbes Haus, hier ist weit und breit kein gelbes Haus zu sehen. Also dann, ich muss jetzt echt los.« Sie winkte und machte sich mit einer Mischung aus Unbehaglichkeit und Zorn aus dem Staub. Dabei waren wir noch nicht einmal im Geschäft gewesen. Ich wollte auf Nummer sicher gehen, also fragte ich die nächste Passantin, wie sie das besagte Haus beschreiben würde. Sie benötigte nur ein einziges Wort, um das Gebäude zu beschreiben und mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen - »Bruchbude«.
Zu Hause hatte ich mich wieder gefasst und stellte mir vor, wie es wohl ausgesehen hatte, als ich von Schaufenster zu Schaufenster sprang und panisch mein Spiegelbild betrachtete. Ich schmunzelte über mich selbst und hoffte, dass mich niemand beobachtet hatte. Bevor ich schlafen ging, wählte ich vergebens Sarahs Nummer. Sarah war oft schwer zu erreichen, doch allmählich begann ich mir Sorgen zu machen.
In den nächsten zwei Wochen sah ich Häuser, wo keine waren. Männer, die nur ich sah, beobachteten mich und ich antwortete auf Fragen, die niemand gestellt hatte. Um nicht für verrückt gehalten zu werden, verkniff ich es mir, die anderen auf seltsame Dinge anzusprechen, überlegte mir jedes Wort zweimal und war ständig auf der Hut, keine negative Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Es war ein ermüdender Spießrutenlauf.
Am folgenden Montag, während unseres wöchentlichen Treffens, ließ Andreas die Hände unvermittelt auf den Tisch knallen. »Okay, was ist los mit dir?«, fragte er ungeduldig.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Seit drei Wochen läufst du wie auf Eiern. Also was ist los?«
Ich fühlte mich bei dem Gedanken, Andreas zu belügen, nicht wohl, daher entschied ich mich für die Halbwahrheit. »Ich bin zurzeit extrem gestresst, ich glaube, ich werde noch verrückt.«
Er musterte mich, überlegte kurz und lächelte zufrieden. »Ich weiß, was du brauchst. Du gehst heute mit mir und meinen Freunden aufs Unifest. Das wird dir guttun.« Die Vorstellung auszugehen machte mir nach meiner letzten Erfahrung beinahe Angst. Auch wenn ich meine Nächte damit verbrachte, an Michael zu denken, war es dennoch ein schrecklicher Abend gewesen. Ich weiß, viele hätten die Erkenntnis, dass es eine übernatürliche Welt gibt, mehr zu schätzen gewusst als ich. Es war beschämend. Ich hatte mich immer als sehr weltoffenen Menschen empfunden und das Übernatürliche hatte mich fasziniert. Nun, da ich wusste, dass es existierte, sollte ich mich da nicht freuen? Andererseits, vielleicht war ich dabei, verrückt zu werden, und nichts von alledem war jemals passiert. Immerhin hatte ich Michael in den letzten drei Wochen nicht gesehen, obwohl er angekündigt hatte, mich nicht alleine zu lassen. Nicht, dass ich beleidigt wäre - oder war ich`s?
Andreas räusperte sich und ich bemerkte, dass er jeden meiner Gesichtsausdrücke beobachtet hatte. Wir mussten los und er entschied sich, mir eine Absage unmöglich zu machen. »Du kommst heute um 20:00 Uhr zu mir oder ich spreche nie wieder mit dir.« Und er schenkte mir ein absolut bezauberndes Lächeln, dem keine Frau widerstehen könnte.

5. VERBOTENES BLUT

Um 20:10 Uhr stand ich vor seiner Tür. Ich hatte mir beim Schminken und der Kleiderwahl Mühe gegeben. Mein schwarzes Kleid betonte meine Figur, besonders meinen Busen und die schwarzen Highheels ließen meine Beine länger wirken. Als er mir die Tür öffnete, hatte ich meinen Mantel bereits ausgezogen. Andreas wirkte gelangweilt, doch als er mich erblickte, riss er die Augen auf und starrte mich mit offenem Mund an. Ich räusperte mich und er machte einen Schritt zur Seite. »Bitte, komm herein!« Er hatte mich noch nie gestylt gesehen. Ich glaube, jede Frau versteht, welche Genugtuung man in einem solchen Moment empfindet. Selbstbewusst ging ich an ihm vorbei. Er schloss die Tür, umarmte mich etwas zu lange für eine unschuldige Begrüßung und schmeichelte mir: »Du siehst einfach umwerfend aus. Du bist meine absolute Traumfrau.«
»Ich kenne dich, das hören heute noch viele Frauen von dir.«
»Natürlich, aber bei dir meine ich es ernst.«
Ich grinste ihn verschmitzt an. »Auch das hören heute noch viele Frauen von dir.« Wir mussten beide lachen. »Warte nur ab, dich bekomme ich auch noch«, stellte er mit einem selbstsicheren Gesichtsausdruck fest. »Na klar«, erwiderte ich sarkastisch und hoffte, dass wir nun zu unserem rein freundschaftlichen Umgang zurückkehren könnten.
Die Reaktionen der anderen anwesenden Männer waren ähnlich. Franz, der mich eigentlich immer nur akzeptiert hatte, weil ich mit Andreas befreundet war, saß bereits nach fünf Minuten leicht betrunken neben mir und belagerte mich. Er erklärte mir nach langem Hin und Her, dass er mich immer ein wenig unheimlich gefunden habe und dass ich in Wahrheit hammergeil sei. Rein äußerlich war er ein Durchschnittstyp, charakterlich war er oberflächlich und uninteressant.
Auf dem Fest wurde es wirklich amüsant. Die Musik war viel zu laut, aber ich genoss es, tanzte und lachte zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig ausgelassen. An diesem Abend war ich die Discoqueen. Ich schwang meine Hüften und ließ mich auf jeden Tanzstil ein. Wenn ich etwas kann, dann tanzen. Viele Jungs spendierten mir Getränke und Andreas ließ seine Dame des Abends stehen, kam zu mir auf die Tanzfläche, legte seinen Arm um mich und sagte: »Ab jetzt gehe ich nie wieder ohne dich aus. Hätte ich gewusst, wie lustig du mit ein wenig Alkohol und Musik bist, hätte ich meine Zeit mit dir nicht lernend vergeudet.« Ich protestierte sofort, ich hätte bis auf ein Glas Sekt keinen Alkohol getrunken und küsste ihn auf die Wange, dabei fiel mir zum ersten Mal auf, wie unvorteilhaft spitz seine Ohren waren. Lächelnd löste ich mich aus seiner Umarmung und ließ ihn stehen. Als ich mich umdrehte, war er bereits zur Frau von vorhin zurückgekehrt und küsste sie. Nach Mitternacht wurde ich langsam müde und beschloss den Abend zu beenden, als es am schönsten war. Als ich die Tanzfläche Richtung Ausgang querte, dachte ich mir, vielleicht wäre es mir ja gestattet, mein normales Leben weiterzuführen. Aber wie es so schön heißt, soll man das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist, oder man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Bei der Eingangstür stand, lässig gegen die Wand gelehnt, Michael, Hauptdarsteller meiner Tagträume. Er trug blaue Jeans und ein schlichtes grünes Hemd. Er sah einfach zum Anbeißen aus. Wäre er nicht das Symbol für meine Verbindung mit der übernatürlichen Welt gewesen, hätte ich mich gefreut. So aber erlebte ich ein Gefühlschaos, von Schmetterlingen im Bauch bis hin zu panischer Angst. Ich war innerlich zerrissen. Sollte ich ihm um den Hals fallen und ihn abknutschen oder mich umdrehen und die Beine in die Hand nehmen? Mein innerlicher Zwist wurde von Franz, der mir besoffen um den Hals fiel und mich zu Boden riss, unterbrochen. »Aua!«
War doch klar, kaum war Michael in der Nähe, wurde ich verletzt. Franz war auf mich gefallen. Durch Hin- und Herrollen versuchte ich den halb bewusstlosen Studienkollegen von mir hinunter zu schubsen, bis ihn eine Hand packte und lieblos von mir zerrte. Dann fasste mich dieselbe Hand am Arm und stellte mich auf die Beine. Michael vergeudete keine Zeit und sagte kopfschüttelnd: »Wie kommst du eigentlich ohne mich zurecht?«
»In Wirklichkeit läuft es anders, kaum bist du in der Nähe, werde ich verletzt. Wie lange bist du schon hier?«
»Eine Weile, ich muss gestehen, es war sehr interessant.«
»Etwas gesehen, was dir gefällt?«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß und schloss seine Attitüde mit einem ausatmenden »Oh ja.« Dann wurde er noch unverschämter. »Würdest du in meiner Disco so tanzen, könntest du gutes Geld verdienen. Die Gogo-Tänzerinnen könnten von dir noch etwas lernen.«
Mit schockiert aufgerissenem Mund gab ich ihm einen leichten Schubs, sagte jedoch anschließend herausfordernd: »Soll ich dir einmal zeigen, wie aufreizendes Tanzen aussieht?« Ich legte einen Arm um seinen Hals, rollte meine Hüfte nach links und zog im Fluss dieser Bewegung mit der rechten Hand mein Kleid seitlich an meinem Bein entlang nach oben, ließ das Kleid wieder nach unten fallen, drehte ihm mit einer fließenden Bewegung den Rücken zu und rieb meine Hüfte in einer Abwärtsbewegung an seiner. Ich tanzte gleich erfinderisch weiter. Er legte seine Arme um mich und passte sich meinem Tanzstil an. Sarah hatte für diese Art von Tanz einen passenden Ausdruck ›Trockensexübungen‹. Minuten später schenkte ich ihm mein nettestes Lächeln und versuchte mich aus seinen Armen zu lösen, aber er zog mich zurück und küsste mich leidenschaftlicher denn je zuvor. Ich vergaß, dass wir auf einer Tanzfläche waren und presste mich mit einem leisen, lustvollen Stöhnen gegen ihn. Ich wusste, dass ich mich von ihm loslösen sollte, aber mein Körper hatte etwas anderes im Sinn. Schließlich gelang es mir. »Warum bist du hier?«, fragte ich atemlos. Scheinbar war es mir tanzend gelungen, ihn aus der Bahn zu werfen. Er sah mich desorientiert und verwirrt an. Er brauchte etwas Zeit, um sich zu sammeln. Ich kostete diesen Moment selbstverständlich vollends aus. Nichts war schöner, als einen Mann auf diese Art aus der Fassung zu bringen. »Du kommst mit mir auf eine Party«, sagte er, immer noch ein wenig durcheinander.
»Könntest du mich wenigstens bitten? Auch wenn du es nicht so meinst.« Er überhörte mich einfach und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die andere Seite der Tanzfläche. Ich folgte seinem Blick. Dort stand Daniel. Im nächsten Moment war er verschwunden. »Wir müssen jetzt los! Wir werden erwartet.« Diesmal klang Michael gehetzt.
»Wer erwartet uns und wo?«, fragte ich, während ich ihm auf den Parkplatz zu seinem Auto folgte.
»Wirst du schon sehen. Vertrau mir und stell nicht so viele Fragen. Je weniger du weißt, desto sicherer bist du.«
»Worum geht es bei euren Kämpfen? Nicht, dass ich dir dabei helfe, die Welt zu zerstören.«
»Es geht hier nicht um Gut oder Böse, vielmehr um uralte Meinungsverschiedenheiten.«
»Also riskiert ihr alle euer Leben, weil ihr euch in einigen Belangen uneinig seid. Welche Differenzen sind einen Krieg wert?«
»Es geht um Macht, alte Fehden, deren Ursprung keiner mehr kennt, und natürlich auch um politische Querelen. Zum Beispiel sind manche Vampire der Meinung, es sei nicht nötig, Menschen zu töten und zu versklaven. Andere denken, dass dies eure einzige Existenzberechtigung ist.«
»Ich hoffe, deine Verbündeten gehören zur ersten Gruppe.«
Er hob seine Augenbrauen. »Wäre es nicht so, hätten wir dir kaum erlaubt dein gewohntes Leben weiterzuführen, sondern dich bei uns behalten, damit du jederzeit verfügbar bist.«
»Was bist du eigentlich?« Keine Antwort, also hatte er entschieden, diese Frage erneut zu ignorieren. Okay, ein weiterer Versuch. »Michael, wie alt bist du?«
»Was glaubst du?« Er wich mir schon wieder aus. Diesmal würde ich nicht so schnell locker lassen. »Du siehst wie Mitte oder Ende zwanzig aus, aber mein Instinkt sagt mir, dass du wesentlich älter bist.«
»Du hast gute Instinkte, du solltest ihnen vertrauen.«
»Meine Instinkte sagen, packe die Koffer und verlasse das Land.«
Er lachte laut und überheblich. »Glaube mir, du würdest es nicht schaffen, das Land zu verlassen.« Immer noch belustigt hielt er mir die Tür zu seinem Auto, einem neuen Audi S8, auf. Seine letzte Bemerkung hatte mich verunsichert, also zögerte ich etwas. Er erkannte meinen Stimmungswechsel sofort. »Warum steigst du nicht ein?«
»Immer wenn ich beginne mich in deiner Gegenwart ein wenig sicher und wohl zu fühlen, sagst du etwas total Beunruhigendes.« Meine Stimme klang ängstlicher als beabsichtigt. Er beobachtete mich überlegend. »Solange du brav bist und tust, was ich sage, wird dir nichts passieren«, sagte er schließlich. Energisch warf ich die Hände in die Luft und ließ sie zurück auf meine Oberschenkel fallen. »Siehst du, du hast es schon wieder getan. Es ist, als wolltest du mich einer lehrbuchreifen Gehirnwäsche unterziehen. Was du mir unterm Strich zu verstehen gibst, ist, dass ihr jetzt mein Leben kontrolliert, ich aber froh darüber sein soll, denn das große Böse ist hinter mir her und ihr beschützt mich davor. Wenn ich mich euch aber zu widersetzen versuche, sollte mir bewusst sein, dass ich nicht die geringste Chance habe. Oh, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, soll ich dir bedingungslos vertrauen.« Ich weiß, dieser Satz war verwirrend, doch er verstand die Botschaft.
Er sah mich geduldig an und bat sanft: »Würdest du mir bitte die Ehre erweisen einzusteigen?« Ich atmete erschöpft aus und nahm am Beifahrersitz Platz.
Der Vampir vom Fest hatte es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht. Er lächelte anzüglich. »Es freut mich, dich wiederzusehen. Deine Vorstellung auf der Tanzfläche war äußerst inspirierend.« Ich fühlte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg, daher beschloss ich seinen Kommentar zu ignorieren und sagte lediglich: »Hallo!« Hätte ich gesagt, dass ich über unser Wiedersehen erfreut gewesen wäre, hätte ich gelogen. Tausend Fragen beschäftigten mich. Michael war der Einzige, mit dem ich über die Ereignisse der vergangenen Wochen reden konnte. Ich vermutete, dass, wohin wir auch fuhren, noch mehr Personen auf uns warten würden. Also ignorierte ich den Vampir hinter mir und fragte etwas zögernd: »Kannst du dich noch an unser Gespräch erinnern, bevor du mir die Tür ins Gesicht geknallt hast?«
Damit war mir seine Aufmerksamkeit sicher. Er ermutigte mich fortzufahren und ich tat es. »In den letzten Wochen habe ich häufig Dinge gesehen, die meine Freunde nicht sehen konnten. Ich sah Häuser, die nicht existierten, Männer, die mich beobachteten, aber offensichtlich nicht da waren, und ich antwortete auf Fragen, die niemand gestellt hatte.«
»Warum hast du nicht angerufen, um mit mir darüber zu sprechen?« Denn so verrückt ich auf der einen Seite nach ihm war, hatte ich auf der anderen Seite eine Heidenangst vor ihm. Da ich mir das natürlich nur dachte und längere Zeit nichts sagte, fuhr er fort: »Sag nicht, du hättest gehofft, wir würden vergessen, dass du existierst.« Er betrachtete mein Gesicht. »Du bist unglaublich naiv. Die Männer, die du gesehen hast, waren zu deinem Schutz dort.« Er öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch ich fiel ihm ins Wort. »Schutz, wieso brauche ich auf der Uni Schutz?« Da war es schon wieder, dieses panische Gefühl.
»Je weniger du weißt, desto besser. Zu den Häusern nenne mir ein Beispiel.«
»In der Nähe der Uni gibt es einen Billa, er befindet sich parallel zur Alpenstraße. Gegenüber von diesem Lebensmittelladen stand früher eine alte Bruchbude. Seit jener Nacht, du weißt, welche ich meine, sehe ich dort eine wunderschöne, gelbe Villa.«
»Es scheint, als hätten wir dich unterschätzt. Dort ist eines unserer magisch getarnten Gebäude. Ich hätte nie gedacht, dass du so immun gegen Magie bist«, hatte der Vampir hinter mir das Wort ergriffen. Ich hatte auf seine Anwesenheit völlig vergessen und schreckte auf. Sobald ich meiner Stimme wieder vertraute, fragte ich: »Also wenn ich nicht verrückt werde, warum passieren mir diese Dinge erst, seitdem ich euch kennengelernt habe?«
»Das ist eine interessante Frage. Es könnte sein, dass unsere Gegenwart etwas in dir wachgerufen hat«, antwortete Daniel.
»Du meinst, wie ein Trigger. Wäre ich an diesem Abend doch einfach zu Hause geblieben.«
»Was auch immer der Auslöser war, deine Fähigkeiten waren schon immer ein Teil von dir. Woher sie kommen, würde mich interessieren. Erzähle mir von deinen Eltern. Ich will alles über sie wissen.«
Gott sei Dank hatte ich mit Sarah so gut wie nie über meine Eltern gesprochen. Um nichts in der Welt würde ich sie in mein Schlamassel hineinziehen. Bisher war ich über ihren Umzug nach Kalifornien traurig gewesen, doch in diesem Moment hatte ich das Gefühl, mich noch nie über etwas mehr gefreut zu haben.
»Nur weil ich verzauberte Gebäude erkenne, besitze ich noch lange keine Fähigkeiten. Ich weiß nicht das Geringste über Zauberei, und was ich bis jetzt getan habe, war mehr Glück als alles andere.« Ich blickte über meine Schulter in Daniels fordernde Augen. »Selbst wenn ich wüsste, was die Quelle meiner sogenannten Fähigkeiten ist, würde ich sie dir nicht verraten«, antwortete ich keck und verschränkte meine Arme, um ihm zu symbolisieren, dass ich nicht bereit war, weiter zu kooperieren. Bevor ich wusste, wie mir geschah, war mein Sicherheitsgurt geöffnet, der Sitz nach hinten geklappt, und ich leistete dem Vampir auf der Rückbank Gesellschaft. Zu Tode erschrocken starrte ich ihn an und wagte nicht mich zu bewegen. Ich hatte das Gefühl, als versuchte er mit seinen Augen ein Loch in meine zu brennen. Alles war besser, als weiter in dieser Position zu verweilen, also sagte ich: »Du wirst mir nichts tun, ihr braucht mich noch.« Meine Stimme klang, als probierte ich mich selbst davon zu überzeugen. Erst sah er mich erstaunt an, als hätte er gerade mit angesehen, wie eine Katze einen Löwen besiegt, dann wurde er wild vor Zorn. Sein Anblick war erschreckend, er war das Furchterregendste, was ich jemals gesehen hatte.
Ich zuckte zurück und Tränen liefen mir über die Wangen, während er mit dem Finger meinen Arm entlang fuhr. »Beim letzten Mal warst du trotz ein paar kleiner Verletzungen sehr nützlich«, drohte er. Ich schwieg und er sprach weiter: »Ich erkläre dir jetzt, wie wir vorgehen. Ich werde dir nun Fragen stellen und du wirst sie wahrheitsgemäß beantworten. Tust du es nicht, breche ich dir einen Knochen nach dem anderen. Lass dir gesagt sein, ich hatte gut tausend Jahre Zeit, menschliches Verhalten zu beobachten. Wenn du lügst, werde ich es wissen.« Ich schluckte kräftig, denn eine unbeschreibbare Panik überkam mich. Daniel senkte bestätigt seinen Kopf. »Ich sehe, wir verstehen uns. Also, wer sind deine Eltern? In deinen Studienunterlagen konnten wir nur ihre Namen finden. Erzähl mir von ihnen! Wo wohnen sie?« Ich durfte diese Fragen nicht beantworten. Ich konnte meine Eltern nicht dieser Kreatur aussetzen. Obwohl sie mich als nützlich erachteten, hatte er mir mit Folter gedroht. Was würde er erst meinen Eltern antun, um mich zu kontrollieren? Weinte ich oder nicht? Ich erinnere mich nicht mehr, doch ich weiß, dass ich eine Entscheidung getroffen habe. Ich würde meine Eltern schützen. Stur streckte ich ihm meinen Arm entgegen. »Brich, los.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Michael sich bemühte, sich ein Grinsen zu verkneifen. Wuterfüllt sprang mir Daniel an die Gurgel und ich spürte, wie er zubiss. Ich schrie vor Schreck und Schmerz auf, dann ging alles sehr schnell. »Nein!« Schreiend riss Michael das Auto an den Straßenrand, brachte es mit quietschenden Reifen zum Stehen, stürmte mit einer dieser übernatürlich schnellen Bewegungen aus dem Auto und kam durch die Hintertür an Daniels Seite herein. Er löste ihn von mir und warf ihn hinaus. Dann wurde Michael mit so großer Wucht aus dem Auto gezogen und gegen eine Fichte geworfen, dass diese durch den Aufprall entwurzelt wurde. Es knallte und schallte, als würden sich zwei LKWs und nicht zwei Personen bekämpfen. »Komm schon, sei nicht so kleinlich. Du musst ihr bei Zeiten Respekt beibringen, sonst wird sie dir ständig auf der Nase herumtanzen«, hörte ich Daniels Stimme. Dann hörte ich erneut ein donnerndes Geräusch.
Meine Hand über die Wunde haltend stieg ich zitternd aus dem Auto. Ich hatte mich gerade ein paar Schritte vom Wagen entfernt, als Michael gegen den Audi geschleudert wurde. Das Auto flog im hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Dach. Michael, der auf dem Boden lag, wurde von Daniel am Kragen gepackt und hochgezogen. »Hört auf! Daniel, ich habe dir nie erlaubt, mein Blut zu trinken«, schrie ich verzweifelt. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wurde mir klar, wie lächerlich und kindisch diese Aussage war. Als würde es den Vampir interessieren, ob ich es ihm erlaube oder nicht.
»Hast du dich wieder beruhigt?«, fragte Daniel Michael schreiend und ging zu Boden. Er fing plötzlich an zu erbrechen, hielt sich den Bauch und gab schmerzerfüllte Laute von sich. Michael stürmte zu mir, überprüfte meine Wunde und küsste beruhigend meine Stirn. Als sein Zorn verflogen war, löste er sich von mir, um nach Daniel zu sehen.
Erschöpft setzte ich mich auf den ausgerissenen Baumstamm. Erst als Michael mich schüttelte, merkte ich, dass er auf mich einredete: »Entschuldige, ich dachte, er blufft, aber sein Zustand scheint ernst. Also würde ich gerne etwas versuchen. Sag, dass du ihm vergibst.«
Ich riss fragend die Augen auf und stammelte: »Wie bitte?«
Michael war verzweifelt. »Melanie, es ist einen Versuch wert.«
Ich hatte keine Lust, ihm zu vergeben. Er hatte mich gebissen und mir mit Folter gedroht. Michael las mein Gesicht. »Bitte, mir zuliebe. Er ist schon seit mehreren Jahrhunderten mein Freund«, flehte er, als hätte er meine Gedanken gehört.
»Daniel, es ist okay, ich vergebe dir«, sagte ich zögernd und wunderte mich, was das bewirken sollte. Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, hörte Daniel auf zu würgen. Er stand auf, als wäre nichts gewesen und setzte sich neben uns auf den Baum. Es war spät und kalt und unser Auto sah aus, als wäre es in eine Schrottpresse geraten. Ich legte den Kopf auf meine angezogenen Knie und schloss die Augen. Michael wickelte eine Decke aus dem Kofferraum seines Autos um mich und hielt mich in seinen Armen. Ich atmete tief ein. Alles roch nach Michael, er hatte einen sehr männlichen, herben und dennoch süßlichen Geruch. Ich mochte diesen Geruch. Nach einer Weile richtete ich meinen Oberkörper auf und lehnte meinen Kopf, trotz der schmerzenden Bisswunde, an seine Schulter. Er zog mich näher zu sich und gab mir einen kurzen Kuss auf den Kopf.
Ich betrachtete den Wagen. »Schade, dein schönes Auto.«
»Ich bin Vollkasko versichert.«
Zu dritt nebeneinander auf einem Baumstamm sitzend, dazu verdonnert zu warten, fragte ich: »Brauchen Vampire die Erlaubnis der Betroffenen, um ihr Blut zu trinken?«
»Nein!« Die Antwort der beiden Männer kam prompt und entnervt. Ich sah sie frustriert an. »Ich finde, ihr schuldet mir ein paar Antworten. Was wisst ihr über mich und was zum Teufel ist eben passiert?«
Michael atmete lange aus. »Meinetwegen. Scheinbar bist du gegen unsere Magie immun. Wir können dich weder verzaubern, noch etwas magisch vor dir verbergen und du kannst andere aus einem Zauber befreien. Dein Blut gewaltsam entrissen scheint für Vampire fatal zu sein und, wie wir gerade gesehen haben, liegt es in deiner Macht, den Vampir zu heilen und ihn zu retten. So etwas habe ich noch nie bei einem Menschen gesehen.«
»Du hast gesagt, noch nie bei einem Menschen. Also wo hast du es schon gesehen?«
Er zögerte und ich hatte das Gefühl, er war unentschlossen, was er mir verheimlichen und was er mir erzählen sollte. »Es gibt da ein altes Volk, aber du kannst unmöglich zu ihm gehören. Soweit ich weiß, existieren nur noch zwei Wesen dieser Art auf der ganzen Welt. Diese beiden würden sich nie mit Menschen paaren.« Das Gespräch wurde durch ein herannahendes Polizeiauto, gefolgt von einem Abschleppwagen, unterbrochen. Erst als der Polizist aus dem Wagen stieg, wurde mir bewusst, dass der Zustand des Autos nur schwer erklärbar war. Daniel stand langsam auf und ging auf den Polizisten zu. »Grüß Gott, wir haben Sie schon erwartet. Wir waren Richtung Salzburg unterwegs, als uns ein LKW rammte und in den Baum dort katapultierte.«
Der Polizist untersuchte die Unfallstelle, erkundigte sich, wie viele Personen im Auto gewesen waren, und verlangte, dass wir uns auf innere Blutungen und dergleichen untersuchen ließen. Nach einem kurzen Blick in Daniels Augen sagte er jedoch: »Das wäre dann wohl alles, Sie können sich den Unfallbericht für die Versicherung morgen bei uns abholen.«
Kurz später fuhr Philippe in einem großen BMW vor. Michael und ich stiegen hinten ein. Daniel nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Denk nicht einmal daran, mich zu beißen«, sagte ich, als er sich umdrehte und mich anstarrte. Er leckte sich provokant die Lippen. »Glaube mir, ich werde an nichts anderes mehr denken. Du bist köstlich.« Sein Lächeln verursachte mir Gänsehaut.
Auf meinem Handy waren fünf Anrufe in Abwesenheit, alle von Andreas. Er hatte mir auf die Mobilbox gesprochen. »Hi, Melanie, lass mich wissen, ob du okay bist? Ich werde heute von dir träumen.«
»Michael, du scheinst Konkurrenz zu haben«, sagte Phillipe herausfordernd. Mein Handy war so leise eingestellt, dass selbst ich mich konzentrieren musste, um die Nachricht zu verstehen. Philippe hatte trotz Radio und Störgeräuschen offenbar keine Schwierigkeiten damit.
Michael legte seinen Arm um mich. »Du solltest ihm sagen, dass du mir gehörst.« Ich gehöre nur mir. Das sagte ich ihm auch, woraufhin alle anwesenden Männer etwas zu lachen hatten und mir auf viele verschiedene Arten zu verstehen gaben, wie süß und naiv ich sei. Als ich ihnen schmollend erklärte, dass sie die ersten waren, die mich naiv fänden, und dass manche Männer mich sogar für unheimlich hielten, konnten sie sich vor Lachen nicht mehr halten.